Die Welt der Toten: Imam Ghazalis Lehre

📅 18. März 2024
👥 VAFA Team
🏛️ Vorträge
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Die Grenze zwischen Leben und Tod fasziniert die Menschheit seit jeher. Was geschieht mit den Verstorbenen? Können wir sie verstehen? Kommunizieren sie mit uns? Diese Vortragszusammenfassung beleuchtet die Lehren des großen islamischen Gelehrten Imam al-Ghazali (1058-1111) über die Welt der Verstorbenen und ihre Verbindung zu den Lebenden.

Die Unbegreiflichkeit der jenseitigen Dimension

Imam al-Ghazali, einer der bedeutendsten religiösen Denker des Islam, der mit seinen Werken wie „Ihya Ulum ad-Din“ (Die Wiederbelebung der religiösen Wissenschaften) die islamische Theologie grundlegend prägte, stellt eine zentrale These auf: Es gibt keine Möglichkeit, mit unseren weltlichen Fähigkeiten zu verstehen, wie sich ein Verstorbener fühlt oder wie sein Zustand ist – es sei denn, Allah gewährt uns diese Einsicht.

Diese Erkenntnis basiert auf der Tatsache, dass wir als Lebende in einer Dimension existieren, die sich fundamental von jener unterscheidet, in der sich die Verstorbenen befinden. Ghazali verwendet ein eindrückliches Gleichnis: So wie unser Ohr keine Farben sehen kann, so können unsere fünf Sinne nicht erfassen, was jenseits ihrer Wahrnehmungsfähigkeit liegt. Der Tod markiert den Übergang in eine Existenzform, die sich der direkten Erfassung durch unsere gewohnten Sinne entzieht.

Die Nähe zum Jenseits durch Weltabkehr

Imam Ghazali erklärt jedoch, dass es eine Besonderheit des Menschen gibt: Je mehr wir uns vom Weltlichen entfernen, desto besser können wir den Zustand der Toten verstehen. Wenn wir uns nicht mit weltlichen Angelegenheiten beschäftigen, öffnet sich ein Fenster zum Verständnis jener anderen Dimension.

Deshalb ist der Schlaf der Zustand, in dem wir dem Tod am nächsten kommen. Im Schlafzustand sind wir vollständig vom Weltlichen abgekoppelt – unsere Seele löst sich teilweise von den materiellen Fesseln. Aus diesem Grund offenbart sich der Tod und der Zustand der Verstorbenen im Schlaf am ehesten dem Menschen. Dies erklärt, warum Träume im Islam als potenzielle Quelle spiritueller Einsichten betrachtet werden.

Die Verstorbenen nehmen Anteil an unserem Leben

Eine bedeutende Lehre Ghazalis besagt: Die Verstorbenen wissen von uns Bescheid. Sie freuen sich, wenn wir gute Taten vollbringen, und empfinden Betrübnis, wenn wir schlechte Taten begehen. Diese Erkenntnis findet Bestätigung in prophetischen Überlieferungen und Koranversen.

Doch wie funktioniert diese Verbindung? Ghazali erklärt, dass dies nicht so geschieht, wie wir es uns vorstellen mögen – nicht wie in modernen Darstellungen, wo Informationen als leuchtende Strahlen fließen. Die Verbindung erfolgt vielmehr durch etwas, das als „Lawh al-Mahfuz“ (die wohlbehütete Tafel) bezeichnet wird.

Das Mysterium von Lawh al-Mahfuz

Lawh al-Mahfuz ist eines der tiefgründigsten Konzepte der islamischen Theologie. Der Koran erwähnt diese „wohlverwahrte Tafel“ in Sure al-Buruj (85:21-22): „Nein, sondern er ist ein herrlicher Quran auf einer wohlverwahrten Tafel.“

Ghazali betont nachdrücklich: Niemand kann vollständig verstehen, was Lawh al-Mahfuz wirklich ist. Es ist das, wo alles geschrieben steht – nicht auf eine Art, wie wir Schrift verstehen, sondern auf eine völlig andere, für uns unbegreifliche Weise. Dort ist alle Kommunikation zwischen Tod und Leben, zwischen den verschiedenen Dimensionen der Existenz verzeichnet. Der Koran selbst bezeichnet sich als auf dieser Tafel geschrieben seiend.

Ein Gleichnis zum Verständnis

Um Lawh al-Mahfuz annähernd zu begreifen, bietet Ghazali ein eindrückliches Gleichnis an: Stellt euch einen Hafiz vor – jemanden, der den gesamten Koran auswendig kennt. Ein Hafiz sieht die Schrift vor seinen inneren Augen, wenn er rezitiert, als wäre sie irgendwo in seinem Gehirn geschrieben. Aber wenn man sein Gehirn öffnen und untersuchen würde, könnte man diese Schrift nirgendwo finden. Man könnte das Gehirn beliebig zerschneiden – den Koran würde man darin nicht lesen können.

Genau so verhält es sich mit Lawh al-Mahfuz. Es ist keine materielle Tafel aus Holz, Stein oder Metall. Es hat keine Ecken und Kanten, keine physische Form. Es existiert in einer Dimension jenseits unserer Wahrnehmungsfähigkeit. Das, was dort geschrieben steht, können wir mit unseren Augen nicht sehen, denn unsere Augen können nur das wahrnehmen, was Allah ihnen als Sehvermögen gegeben hat.

Die Verbindung der Verstorbenen zu Lawh al-Mahfuz

Ghazali erklärt: Je mehr ein Mensch mit Lawh al-Mahfuz zu tun hat – durch spirituelle Praxis, Gottesgedenken und Reinigung des Herzens – desto mehr weiß er vom Zustand anderer Dimensionen: vom Tod, von Engeln, von Djinn und anderen verborgenen Realitäten.

Die Verstorbenen sind mit Lawh al-Mahfuz verbunden, sie interagieren damit. Deshalb wissen sie vom Zustand der Lebenden. Lawh al-Mahfuz funktioniert wie ein Spiegel – ein Spiegel, der alles reflektiert. Die Seele Adams, des ersten Menschen, ist wie ein Spiegel. Die Seele eines Verstorbenen ist ebenfalls wie ein Spiegel. Und genauso wie ein Spiegel das Original exakt widerspiegelt, so sehen die Verstorbenen in Lawh al-Mahfuz unseren Zustand, unsere Taten, unser Leben.

Die Grenzen menschlicher Erkenntnis

Ghazali warnt davor, zu tief in diese Geheimnisse einzudringen: Wer sich zu intensiv mit dem Konzept von Lawh al-Mahfuz beschäftigt, könnte den Verstand verlieren, denn es ist etwas, das menschliches Begreifen übersteigt. Wir sind bereits eingeschränkt darin, die Dimension zu verstehen, in der wir aktuell leben – wie sollten wir dann vollständig verstehen, was in einer ganz anderen Dimension existiert?

Das Erinnerungsvermögen eines Hafiz gibt uns nur einen schwachen Vorgeschmack auf diese Realität. Das, was auf Lawh al-Mahfuz geschrieben steht, kann nicht mit bloßen Augen gesehen werden. Man kann nichts, was unendlich ist, in etwas hineinpressen, was endlich ist. Unsere Augen sind endlich, Lawh al-Mahfuz gehört zur Dimension der Unendlichkeit.

Die Hoffnung auf göttliche Offenbarung

Ghazali betont: Wenn man ein Verständnis von Lawh al-Mahfuz erlangen möchte, sollte man Allah darum bitten. Die Propheten, insbesondere unser Prophet Muhammad (ﷺ), erhielten solche Einsichten. Während der Himmelfahrt (Mi’raj) wurde dem Propheten die Welt auf eine Weise gezeigt, die für uns unmöglich zu verstehen ist – er sah Raum und Zeit vor sich, er sah die Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Dies ermöglichte ihm, prophetische Vorhersagen zu machen, die sich später bewahrheiteten.

Die Träume von Verstorbenen

Ghazali erklärt, dass es möglich ist, von Verstorbenen zu träumen. Solche Träume können Bedeutung haben: Die Verstorbenen schön oder hässlich zu sehen, ist ein Anzeichen dafür, dass es ihnen entweder gut geht oder – Gott bewahre – dass es ihnen schlecht geht. Die Verstorbenen sind nicht einfach verschwunden, sie sind nicht von heute auf morgen weg. Sie existieren weiterhin, wenn auch in einer anderen Form.

Die koranische Bestätigung: Das Leben der Märtyrer

Diese Lehre findet ihre Bestätigung im Koran selbst. Allah sagt in Sure Al Imran, Vers 169-170: „Und meine ja nicht, diejenigen, die auf Allahs Weg getötet worden sind, seien wirklich tot. Nein, vielmehr sind sie lebendig bei ihrem Herrn und werden versorgt. Und sind froh über das, was Allah ihnen über seine Huld gewährt hat, und sind glückselig über diejenigen, die sich nach ihnen noch nicht angeschlossen haben, dass keine Furcht über sie kommen soll, noch sie traurig sein sollen.“

Dieser Vers bezieht sich auf die Märtyrer – jene, die auf dem Weg Allahs ihr Leben geben. Sie sind bei Allah lebendig, sie werden versorgt, es geht ihnen gut. Sie leben weiter, wenn auch in einer Dimension, die wir mit unseren gewöhnlichen Sinnen nicht erfassen können.

In den authentischen Überlieferungen bei Muslim erklärt der Prophet (ﷺ), dass die Seelen der Märtyrer in grünen Vögeln wohnen, die Lampen haben, die am Thron Allahs hängen. Sie bewegen sich frei im Paradies und kehren zu diesen Lampen zurück. Allah fragt sie: „Wünscht ihr euch irgendetwas?“ Sie antworten: „Was können wir uns mehr wünschen, während wir im Paradies umhergehen, wie wir wollen?“

Praktische Implikationen für das Leben

Diese Lehren haben tiefgreifende Konsequenzen für unser Leben:

Erstens sollten wir uns bewusst sein, dass unsere Verstorbenen möglicherweise Anteil an unserem Leben nehmen. Gute Taten erfreuen sie, schlechte Taten betrüben sie. Dies sollte uns zusätzliche Motivation geben, rechtschaffen zu leben.

Zweitens zeigt die Lehre von Lawh al-Mahfuz die Grenzen menschlicher Erkenntnis. Demut ist angebracht – nicht alles können und müssen wir verstehen. Einige Geheimnisse bleiben Allah vorbehalten.

Drittens betont die Lehre die Bedeutung spiritueller Praxis: Je mehr wir uns vom rein Weltlichen lösen und uns Allah zuwenden, desto mehr öffnen sich uns Einsichten in höhere Realitäten.

Fazit: Zwischen Wissen und Mysterium

Imam Ghazalis Lehren über die Welt der Toten bewegen sich auf einem schmalen Grat zwischen dem, was wir wissen können, und dem, was Mysterium bleiben muss. Sie lehren uns Demut vor der Schöpfung, Respekt vor den Verstorbenen und die Bedeutung eines rechtschaffenen Lebens.

Die Verstorbenen sind nicht einfach verschwunden. Sie existieren weiter in einer Dimension, die mit der unsrigen verbunden ist – durch das göttliche Mysterium von Lawh al-Mahfuz. Und der Schlüssel zu einem tieferen Verständnis liegt nicht in intellektueller Spekulation, sondern in spiritueller Reinigung und der Bitte um göttliche Einsicht.

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