Drei Arten, sich an den Tod zu erinnern

📅 18. Dezember 2023
👥 VAFA Team
🏛️ Vorträge
⏱️ 7 Min. Lesezeit

Diese Vortragszusammenfassung behandelt die drei verschiedenen Arten, wie Menschen sich an den Tod erinnern, und eine vierte, höchste Stufe spiritueller Ergebenheit, basierend auf unserem wöchentlichen Vortrag vom 17. Dezember 2023.

Imam Abu Hamid al-Ghazali widmet dem Thema Tod und der Erinnerung daran das 40. Buch seines monumentalen Werks „Ihya Ulum al-Din“ (Die Wiederbelebung der religiösen Wissenschaften), welches auf Koran, Prophetenüberlieferungen und Berichten rechtschaffener Gelehrter basiert. In der vorherigen Lektion hatten wir besprochen, wie wichtig es ist, regelmäßig über den Tod nachzudenken. Diese Woche differenziert Imam Ghazali drei grundsätzlich verschiedene Haltungen, mit denen Menschen dem Tod begegnen.

Die erste Art: Die erbärmliche Weltanhaftung

Die erste Kategorie beschreibt Menschen, die so stark am Diesseitigen haften, dass sie den Tod als etwas Hässliches, Furchtbares betrachten. Diese Menschen definieren sich über die materiellen Schönheiten dieser Welt und glauben, dass mit dem Tod all diese Freuden enden. Sie beklagen den Tod und sehen ihn als das Ende von allem Erstrebenswerten.

Nach al-Ghazali gehört alles, was nicht für Gott ist, zum Diesseits – während das, was für Gott ist, zum Jenseits gehört. Menschen der ersten Kategorie verstehen diese Unterscheidung nicht. Imam Ghazali sagt über diese Kategorie: „Sie mögen sich beschweren, so viel sie wollen – diese Welt wird mit all ihren Schönheiten verlassen werden, so oder so.“

Diese Einstellung prägt leider auch unsere moderne Gesellschaft stark. Wir leben in einer Zeit, in der der Tod tabuisiert wird, in der wir nicht sterben wollen, weil wir noch Geld verdienen, noch Kinder großziehen, noch die Welt sehen möchten. Doch diese Perspektive verkennt die Natur des Lebens fundamental.

Im osmanischen Türkisch existierte eine sprachliche Weisheit, die diese Wahrheit besser erfasste: Wenn jemand starb, sagte man nicht einfach „er ist verstorben“ oder verwendete euphemistische Floskeln. Man sagte schlicht: „Er ist in das ewige Leben eingetreten.“ Diese Formulierung ist neutral und wahrhaftig – denn wir alle werden in das ewige Leben eintreten. Niemand von uns weiß, wo er bei Gott steht, daher ist diese neutrale Aussage die angemessenste.

Ein kontroverses, aber wichtiges Beispiel verdeutlicht diese Perspektive: Bei der Betrachtung der Situation in Palästina, wo Kinder sterben, gibt es zwei Wahrheiten. Auf der einen Seite ist ihr Tod tragisch. Auf der anderen Seite sind diese Kinder nun bei Gott – und die Welt ist heute nicht mehr so lebenswert wie früher. Menschen sind depressiv und unglücklich. Diese Kinder sind nun an einem besseren Ort, anstatt in dieser schwierigen Welt aufzuwachsen.

Allah lehrt uns, dass der Tod nicht das Ende, sondern ein Übergang ist. Das Leben soll nicht unser einziger Fokus sein. Es gibt die Aussage: Wir sollen für die Welt streben, als würden wir niemals sterben – aber gleichzeitig für das Jenseits streben, als würden wir morgen sterben. Gerade die Corona-Pandemie hätte uns diese Lektion lehren sollen. Menschen, die anfällig waren, hätten sich fragen müssen: Wenn ich jetzt Corona bekomme und sterbe – wie sieht mein Bankkonto im Jenseits aus? Jedes Gebet, das wir versäumen, bringt unser spirituelles Konto weiter in den Dispo.

Doch der Prophet Muhammad (Friede sei mit ihm) gab uns Hoffnung: Es gibt bestimmte Taten, die auch nach dem Tod noch Gutes auf unser Konto einzahlen – etwa Kinder, die man islamisch erzogen hat und die rechtschaffen leben, oder dauerhafte wohltätige Werke wie Brunnen oder Wasserstellen.

Die zweite Art: Die reuevollen Gottesfürchtigen

Die zweite Kategorie umfasst die „Tawba-Ehli“ – jene Menschen, die sich kontinuierlich bei Allah für ihre Fehler entschuldigen und um Vergebung bitten. Das arabische Wort „Tawba“ bezeichnet die Reue und Umkehr zu Gott. Diese Menschen machen nicht nur einmal Tawba, sondern kehren immer wieder zu Allah zurück – manchmal sogar wegen desselben Fehlers.

Diese Menschen haben Angst vor dem Tod, aber aus einem edlen Grund: Sie fürchten sich vor ihren Sünden. Sie wollen nicht sterben, solange sie noch Sünden auf ihrem Konto haben, und bitten Allah, ihr Leben zu verlängern, damit sie noch mehr bereuen und sich bessern können. Diese Art der Furcht ist keine schlechte Angst – sie entspringt der Ehrfurcht vor Gottes Gerechtigkeit und dem Bewusstsein der eigenen Unvollkommenheit.

Dies ist eine sehr hohe Art, sich an den Tod zu erinnern, denn sie zeugt von spirituellem Bewusstsein und dem ernsthaften Streben nach Läuterung.

Die dritte Art: Die nach der Gottesbegegnung Sehnenden

Die dritte und höchstgeschätzte Art der Todeserinnerung betrifft jene Menschen, die nur darauf hoffen, Allah zu begegnen. Ihre Sehnsucht nach dem Tod gleicht der Sehnsucht eines Liebenden nach seinem Geliebten. Sie warten auf dieses Treffen, streben danach, bereiten sich darauf vor – nicht aus Weltflucht, sondern aus tiefer Gottesliebe.

Ein eindrucksvolles Beispiel liefert Hudhayfa (möge Allah mit ihm zufrieden sein), ein Gefährte des Propheten. Als er in seinen Todesschmerzen lag, sagte er: „Der Freund ist da, und er ist pünktlich. Oh Allah, du weißt, dass ich das Armsein mehr liebe als das Reichsein, dass ich die Krankheit mehr liebe als die Gesundheit, und den Tod mehr liebe als das Lebendigsein. Bitte erleichtere mir den Tod, sodass ich mit deiner Hilfe Erleichterung finde.“

Diese Worte offenbaren eine Stufe der Gottesergebenheit, die für die meisten Menschen kaum vorstellbar ist. Hudhayfa sehnte sich nicht nach dem Tod aus Verzweiflung, sondern aus reiner Liebe zu Allah und dem Verlangen nach Seiner Nähe.

Die vierte Stufe: Vollkommene Ergebenheit

Imam Ghazali beschreibt darüber hinaus noch eine zusätzliche, noch höhere Stufe: die Stufe der vollkommenen Ergebenheit. Menschen auf dieser Stufe sehen den Tod weder als schlecht an, noch verlangen sie nach ihm. Sie wünschen sich nicht, dass er früher kommt, noch möchten sie, dass er verzögert wird. Sie wünschen sich den Tod nur, wenn Allah es so vorgesehen hat.

Diese Menschen haben aufgehört, dem zu folgen, wonach sie selbst verlangen. Ihr eigener Wille ist vollständig dem Willen Allahs untergeordnet. Sie haben die Stufe der Ergebenheit (Rida) und des Wohlgefallens Allahs erreicht.

Auf dieser Stufe ist es, als ob Leben und Tod für den Menschen eins sind. Wenn der Tod ihn erreicht, hat er keine Angst – er beachtet es nicht einmal besonders. Warum? Weil er auf der Welt stets in einem Zustand gelebt hat, der dem Märtyrertum (Shahada) gleichkommt.

Das islamische Verständnis des Märtyrertums

An dieser Stelle ist eine wichtige Klarstellung notwendig: Im Islam ist Märtyrer nicht nur, wer im Krieg stirbt. Der Prophet Muhammad (Friede sei mit ihm) sagte: „Die Märtyrer sind fünf: einer, der an einer Pest stirbt, einer, der durch eine Bauchverletzung stirbt, einer, der ertrinkt, einer, der unter Steinschutt umkommt, und einer, der im Kampf auf dem Weg Allahs getötet wird.“

Es gibt sogar drei Kategorien von Märtyrern in der islamischen Rechtslehre: jene, die im Krieg fallen; jene, die beim Schutz ihres Eigentums, Lebens, Gewissens oder ihrer Ehre sterben; und jene, die durch andere Umstände wie Ertrinken, Verbrennen, bei der Geburt, in der Fremde oder beim Wissenserwerb sterben.

Das bedeutet: Ein Mensch, der sein ganzes Leben für das Aufrechterhalten des Namens Allahs und für rechtschaffene Taten gelebt hat, erreicht eine spirituelle Stufe, auf der Leben und Tod ihre gewöhnliche Bedeutung verlieren. Sein einziger Fokus liegt darauf, dass Allahs Name erhöht bleibt und Seine Rechtleitung sich verbreitet.

Zusammenfassung

Die drei Arten, sich an den Tod zu erinnern – die erbärmliche Weltanhaftung, die reuevolle Gottesfurcht und die sehnsüchtige Gottesliebe – sowie die vierte Stufe vollkommener Ergebenheit zeigen die Bandbreite menschlicher Haltungen gegenüber der Sterblichkeit. Während die erste Kategorie den Tod als Feind betrachtet, sieht die höchste Stufe in ihm weder Freund noch Feind, sondern akzeptiert ihn als Teil von Allahs vollkommenem Plan. Das Ziel ist nicht, den Tod herbeizusehnen oder zu fürchten, sondern in einem Zustand zu leben, der uns jederzeit bereit macht, vor unseren Schöpfer zu treten.

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