Die Absicht im Gebet: Fundament der Gültigkeit

📅 11. September 2023
👥 VAFA Team
🏛️ Vorträge
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Das rituelle Gebet im Islam besteht aus zahlreichen Elementen – doch eines davon entscheidet fundamental über dessen Gültigkeit: die Niyat, die Absicht. In unserem wöchentlichen Vortrag am 10. September 2023 behandelten wir diese oft unterschätzte, aber zentrale Komponente des Gebets nach hanafitischer Rechtsschule.

Was ist Niyat überhaupt?

Niyat bezeichnet die bewusste Absicht, mit der eine gottesdienstliche Handlung vollzogen wird. Der bekannte Hadith „Die Handlungen werden entsprechend der Absichten beurteilt“ verdeutlicht ihre theologische Bedeutung: Jede Tat erhält ihren Wert durch die Intention, die ihr zugrunde liegt.

Im Kontext des Gebets bedeutet Niyat konkret: Das Herz entscheidet sich bewusst dafür, ein bestimmtes Gebet für das Wohlgefallen Allahs zu verrichten – ohne weltliche Hintergedanken wie Ansehen oder soziale Anerkennung. Diese innere Ausrichtung unterscheidet eine spirituelle Handlung von einer bloßen körperlichen Bewegung.

Die theologische Dimension der Absicht

Nach hanafitischer Auffassung ist Niyat die letzte Pflicht außerhalb des eigentlichen Gebets – nach Reinigung, Bedeckung, Gebetsrichtung und Zeit. Sie bildet damit die Brücke zwischen äußerer Vorbereitung und innerer Hinwendung zu Allah. Die Absicht entspringt dem Herzen und muss dort fest verankert sein. Das Aussprechen mit der Zunge gilt als Mustahab, also als gern gesehen und empfohlen, ist aber nicht zwingend erforderlich.

Diese Unterscheidung ist bedeutsam: Wer mit dem Herzen die richtige Absicht gefasst hat, dessen Gebet ist gültig – auch wenn die Zunge schweigt. Wer jedoch nur mechanisch Worte ausspricht, ohne dass das Herz diese Intention trägt, dessen Gebet verliert seine Gültigkeit. Die Authentizität der inneren Haltung steht über der äußeren Form.

Praktische Umsetzung: Was muss beabsichtigt werden?

Die konkrete Formulierung der Niyat unterscheidet sich je nach Gebetsart. Bei Pflichtgebeten (Farz) sollte man die Tageszeit mit einbeziehen. Beispiele:

  • „Ich beabsichtige, das heutige Zuhr-Gebet zu verrichten“
  • „Ich beabsichtige, das Farz-Gebet dieser Gebetszeit zu verrichten“

Lediglich beim Freitagsgebet (Jumu’ah) entfällt diese zeitliche Spezifizierung, da das Gebet selbst die Zeit definiert.

Bei freiwilligen Gebeten (Nafile) reicht eine allgemeinere Absicht aus. Man kann einfach die Intention fassen, ein Gebet zu verrichten, oder spezifischer werden: „Ich beabsichtige, die erste Sunnah des Zuhr-Gebets zu beten.“ Beim Tarawih-Gebet sollte explizit die Tarawih-Absicht ausgesprochen werden, da dieses Gebet eine besondere Kategorie bildet.

Der richtige Zeitpunkt der Niyat

Die Absicht sollte unmittelbar vor dem Eröffnungstakbir (Allahu Akbar) gefasst werden. Es ist zwar möglich, die Niyat früher zu fassen – etwa bereits während der rituellen Waschung – jedoch darf zwischen Absicht und Gebetsbeginn keine Handlung stehen, die dem Gebet widerspricht. Unterhaltungen, Essen oder Trinken würden die gefasste Absicht ungültig machen.

Nach hanafitischer Ansicht kann die Niyat nicht mehr nach dem Takbir korrigiert werden. Die Shafi’i-Rechtsschule behandelt diesen Punkt strenger und macht die zeitliche Nähe zwischen Niyat und Takbir zur Pflicht.

Flexibilität bei Verwechslungen

Die islamische Rechtslehre zeigt pragmatische Flexibilität bei unbeabsichtigten Verwechslungen. Wer beispielsweise die Absicht für ein aktuelles Pflichtgebet fasst, aber nach dem Gebet feststellt, dass die Gebetszeit bereits abgelaufen war, dessen Gebet wird automatisch als nachgeholtes Gebet (Qada) gewertet.

Ebenso verhält es sich umgekehrt: Wer ein Qada-Gebet beten wollte, sich aber innerhalb der aktuellen Gebetszeit befindet, dessen Gebet zählt als aktuelles Pflichtgebet. Diese Regelung verdeutlicht, dass Allah die aufrichtige Intention würdigt, selbst wenn der Betende sich über die genauen Umstände im Unklaren war.

Eine bemerkenswerte Erleichterung liegt darin, dass man sich nicht während des gesamten Gebets ununterbrochen an seine Absicht erinnern muss. Wer mitten im Gebet vergisst, ob er Farz oder Sunnah beten wollte, und das Gebet als Sunnah fortsetzt, dessen ursprüngliche Farz-Absicht bleibt dennoch bestehen.

Besonderheiten beim Gemeinschaftsgebet

Beim Gebet in der Gemeinschaft (Jamaat) gelten zusätzliche Regeln. Der Betende muss nicht nur die Absicht für das Gebet selbst fassen, sondern auch explizit die Intention aussprechen, dem Imam zu folgen. Es reicht nicht zu sagen „Ich schließe mich an“ – man sollte konkret werden: „Ich folge diesem Imam im Zuhr-Gebet.“

Diese Niyat zum Anschluss sollte erst erfolgen, nachdem der Imam bereits mit dem Takbir begonnen hat, um sicherzustellen, dass man sich tatsächlich einem aktiven Gebet anschließt. Wer den Takbir vor dem Imam spricht, muss diesen wiederholen, um die Gültigkeit des Gemeinschaftsgebets zu wahren.

Der Imam selbst benötigt keine besondere Absicht, Vorbeter zu sein – mit einer Ausnahme: Eine Frau, die für andere Frauen das Gebet leitet, muss explizit die Intention fassen, Vorbeterin zu sein. Nur so können sich andere Frauen ihr im Gebet anschließen.

Die spirituelle Dimension bewahren

Bei all diesen rechtlichen Feinheiten darf die spirituelle Essenz nicht verloren gehen. Die Niyat erinnert uns daran, dass jedes Gebet eine bewusste Hinwendung zu Allah darstellt – keine mechanische Routine. Sie schützt vor der Gefahr, dass rituelle Handlungen zu leeren Gesten verkommen.

Gleichzeitig zeigt die hanafitische Tradition durch ihre pragmatischen Regelungen, dass menschliche Unvollkommenheit und Vergesslichkeit eingeplant sind. Die Absicht muss aufrichtig sein, aber sie muss nicht perfekt artikuliert oder durchgehend präsent bleiben. Was zählt, ist die ehrliche Ausrichtung des Herzens auf Allah – den Rest regelt die göttliche Barmherzigkeit.

Die Beschäftigung mit den Feinheiten der Niyat führt uns zu einer bewussteren Gebetspraxis. Sie lädt ein, jeden Moment vor dem Takbir als Schwelle zu verstehen – einen Übergang von der weltlichen Zerstreuung zur konzentrierten Hinwendung an den Schöpfer. In dieser bewussten Unterbrechung des Alltags liegt die transformative Kraft des rituellen Gebets.

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