
Im zeitgenössischen islamischen Diskurs findet eine bemerkenswerte Verschiebung statt: Während Fragen der rituellen Korrektheit und theologischer Feinheiten breiten Raum einnehmen, gerät ein fundamentales Element des Islam zunehmend aus dem Blick – Ahlaq, die islamische Ethik und Charakterbildung. Unser Vortrag am 30. April 2023 widmete sich dieser oft vernachlässigten, aber zentralen Dimension des Glaubens.
Die drei Säulen islamischer Praxis
Der Islam lässt sich in drei wesentliche Bereiche untergliedern: Iman (Glaube), Ibadet (Gottesdienst) und Muamalat – unter letzterem versteht man sowohl Ahlaq (Ethik/Moral) als auch Siyaset (soziale/staatliche Ordnung). Diese Dreiteilung verdeutlicht: Ahlaq steht auf derselben Ebene wie Glaube und ritueller Gottesdienst. Es handelt sich nicht um eine fakultative Ergänzung oder persönliche Präferenz, sondern um eine tragende Säule islamischen Lebens.
Diese fundamentale Bedeutung manifestiert sich bereits in der klassischen Hadith-Literatur. Das bedeutende Werk „Riyad as-Salihin“ widmet der Charakterbildung ein eigenes, ausführliches Kapitel. In der traditionellen islamischen Gelehrsamkeit hatte Ahlaq sogar direkten Einfluss auf die Vergabe der Ijazah – der Lehrerlaubnis. Ein Gelehrter, der zwar über umfangreiches Wissen verfügte, aber charakterliche Mängel wie Hochmut aufwies, konnte die Ijazah verweigert werden. Die innere Haltung und das praktizierte Verhalten wogen schwerer als rein intellektuelle Brillanz.
Die dynamische Wechselwirkung
Iman, Ibadet und Ahlaq stehen nicht isoliert nebeneinander, sondern befinden sich in einer dynamischen Wechselbeziehung. Der Glaube führt zu gottesdienstlichen Handlungen – nicht nur im engen Sinne des rituellen Gebets, sondern auch in Form von Fasten, Pilgerfahrt und dem respektvollen Umgang mit den Eltern. Diese Ibadet wiederum formt und verfeinert den Charakter. Ein verbesserter Ahlaq festigt schließlich den Iman und vertieft die spirituelle Bindung zu Allah.
Das Gegenteil dieser Aufwärtsspirale offenbart sich bei der Ablehnung dieser Bereiche. Wer den Iman verweigert, befindet sich im Zustand des Kufr oder Schirk. Wer den gottesdienstlichen Pflichten wissentlich nicht nachkommt, begeht Fisq – Sünde. Doch wer guten Charakter ablehnt oder auf Korrekturen mit Widerstand reagiert, verfällt dem Kibir – jenem gefährlichen Hochmut, den der Prophet Muhammad als „das Ablehnen der Wahrheit und das Herabsehen auf andere Menschen“ definierte.
Die Gefahr des Kibir
Ein eindrückliches Beispiel verdeutlicht die Ernsthaftigkeit, mit der der Prophet dem Kibir begegnete. Ein Mann aß demonstrativ mit der linken Hand, obwohl der Prophet ihn aufforderte, die rechte Hand zu benutzen. Der Mann behauptete, nicht die Kraft zu haben – eine fadenscheinige Ausrede, motiviert durch Stolz. Die Reaktion des Propheten war unmissverständlich: „Mögest du nicht mehr essen können.“ Diese drastische Aussage unterstreicht, wie gefährlich die Kombination aus Wissen um das Richtige und bewusster Ablehnung aus Arroganz ist.
Selbst Prophet Nuh warnte seinen Sohn vor zwei fundamentalen Übeln: Schirk und Kibir. Die Warnung vor dem Hochmut steht dabei auf derselben Stufe wie die Warnung vor dem Götzendienst – eine theologisch hochbedeutsame Gleichstellung, die die destruktive Kraft von Arroganz und Selbstüberschätzung verdeutlicht.
Das Gewicht guten Charakters
Die überlieferte Aussage des Propheten „Ich bin gesandt worden, um den edlen Charakter zu vervollkommnen“ definiert seine gesamte Mission nicht primär durch neue theologische Konzepte oder rituelle Innovationen, sondern durch die Wiederherstellung und Vervollkommnung menschlicher Tugenden. Als Abu Huraira den Propheten fragte, was die meisten Menschen ins Paradies führen wird, lautete die Antwort: „Respekt gegenüber Allah und guter Charakter.“ Umgekehrt führen der Missbrauch der Zunge und der Geschlechtsteile – beides Ausdruck mangelnder Charakterbildung – die meisten Menschen in die Hölle.
Ein weiterer Hadith unterstreicht diese Priorität: Am Tag des Jüngsten Gerichts wird nichts schwerer in der Waagschale der guten Taten wiegen als guter Charakter. Aisha berichtete vom Propheten, dass ein Mensch durch guten Charakter die spirituelle Stufe desjenigen erreichen kann, der tagsüber fastet und nachts bis zum Morgen betet. Die Qualität des Charakters kann also intensive gottesdienstliche Anstrengungen aufwiegen oder sogar übertreffen.
Universalität versus Selektivität
Authentischer Ahlaq zeichnet sich durch Konsistenz aus. Es reicht nicht, in der Öffentlichkeit vorbildlich zu agieren, während man zu Hause die Familie schlecht behandelt. Es genügt nicht, in der Moschee Frömmigkeit zu demonstrieren, während man im privaten Schriftverkehr respektlos kommuniziert. Wahrer Charakter manifestiert sich nicht situativ, sondern universell – in allen Kontexten und Beziehungen.
Diese Anforderung lässt sich anhand eines Entwicklungsmodells verdeutlichen: Man beginnt unbewusst inkompetent (man kennt die ethischen Standards nicht), wird dann bewusst inkompetent (man kennt sie, handelt aber noch nicht danach), erreicht schließlich bewusste Kompetenz (man handelt korrekt, muss aber noch darüber nachdenken) und idealisiert die Stufe unbewusster Kompetenz – guter Charakter ist so verinnerlicht, dass er automatisch zum Ausdruck kommt.
Person versus Tat: Eine kritische Unterscheidung
Eine der anspruchsvollsten Übungen islamischer Ethik liegt in der Trennung zwischen Person und Handlung. Während wir verwerfliche Taten ablehnen und kritisieren müssen, dürfen wir die Person, die diese Taten begeht, nicht verdammen. Diese Unterscheidung bewahrt vor Bitterkeit, ermöglicht echte Korrektur und verhindert die Entstehung tiefsitzenden Grolls.
Wer an der Person hängt, wird diese Beziehung nicht loslassen können – selbst nach deren Tod. Wer sich jedoch auf die problematische Handlung konzentriert, kann nach deren Korrektur oder Beendigung abschließen. Diese Haltung eröffnet auch die Möglichkeit konstruktiver Kritik: Menschen spüren intuitiv, ob jemand ein Problem mit ihrer Person hat oder mit einem spezifischen Verhalten. Nur im zweiten Fall ist Veränderung wahrscheinlich.
Die externe Perspektive
Eine zentrale Einsicht des Vortrags besteht darin, dass Ahlaq nicht selbst bewertet werden kann. Die Frage „Habe ich guten Charakter?“ kann nur von außen beantwortet werden – durch die Menschen, mit denen man interagiert. Diese externe Perspektive schützt vor der Selbsttäuschung des Kibir und hält einen in heilsamer Demut.
Die Geschichte islamischer Größe – von den Sahaba über die Tabiin bis zu den großen Gelehrten und gerechten Herrschern – zeigt ein wiederkehrendes Muster: Jene, die ihren Charakter von außen korrigieren ließen und offen für Kritik blieben, erlebten göttliche Unterstützung. Jene, die ihren eigenen Charakter als makellos betrachteten, verfielen dem Kibir und der Unterdrückung.
Möge Allah unsere Herzen so offen halten, dass wir unseren Charakter kontinuierlich verbessern können, und möge Er uns vor dem Gift des Hochmuts bewahren.



