
Die prophetische Mission beginnt nicht im luftleeren Raum. Bevor der Prophet Muhammad (s.a.v.) seine ersten Offenbarungen empfing, hatte Mekka eine jahrhundertelange Geschichte durchlaufen – von der reinen monotheistischen Tradition Abrahams über den schleichenden Verfall in den Götzendienst bis zur politischen Konsolidierung der Quraisch. Unser Sīra-Unterricht am 16. November 2025 widmete sich dieser entscheidenden Vorgeschichte, die das Verständnis der prophetischen Botschaft erst ermöglicht.
Der schleichende Verfall: Vom Monotheismus zum Götzendienst
Die Kaaba, von Abraham und Ismail als Haus der Anbetung des Einen Gottes errichtet, zog über Generationen Pilger aus ganz Arabien an. Sie vollzogen die Riten, die Abraham ihnen gelehrt hatte – die große Pilgerfahrt (Hajj) einmal jährlich und die kleine Pilgerfahrt (Umrah) zu jeder Zeit. Über viele Generationen blieben diese Riten aufrichtig und rein, genau wie Abraham und Ismail sie eingeführt hatten. Selbst die Nachkommen Isaacs erkannten die Kaaba als heiliges Gotteshaus an.
Doch die Reinheit des Glaubens war nicht von Dauer. Die Nachkommen Ismaels wurden so zahlreich, dass nicht alle im Tal von Mekka bleiben konnten. Jene, die fortzogen, nahmen Steine aus dem heiligen Bezirk mit – zunächst in frommer Absicht, um sie in ihrer neuen Heimat zu verehren. Mit der Zeit jedoch geschah eine verhängnisvolle Transformation: Aus den Steinen wurden Götterbilder.
Beeinflusst durch Nachbarstämme, die heidnische Götzen verehrten, begannen Pilger, Götzenbilder zur Kaaba zu bringen und neben dem heiligen Haus aufzustellen. Die Menschen glaubten nun, diese Götzen seien Mittler zwischen Gott und den Menschen. Der direkte Glaube an den Einen Gott schwächte sich ab. Viele hörten sogar auf, an das Leben nach dem Tod zu glauben – eine fundamentale Abkehr von der abrahamitischen Tradition.
Die Juden, die die Kaaba ursprünglich als Abrahams Tempel anerkannten, stellten ihre Besuche ein. Sie konnten den Götzendienst nicht akzeptieren und wollten mit diesem Abfall nichts zu tun haben.
Die Verschüttung des Zamzam-Brunnens
Ein sichtbares Zeichen dieses geistigen Niedergangs war das Verschwinden des Zamzam-Brunnens. Jene Quelle, die einst Hagar und Ismail in der Wüste gerettet hatte, wurde zum Opfer politischer Machtkämpfe. Die Jurhum, ein Stamm aus dem Jemen, hatten sich zu Herren über Mekka gemacht. Die Nachkommen Abrahams ließen dies zu, weil Ismaels zweite Frau aus ihrem Stamm stammte.
Doch die Jurhum wurden ungerecht und tyrannisch. Als sie schließlich aus Mekka vertrieben wurden, verschütteten sie aus Rache den Zamzam-Brunnen. Sie füllten ihn mit Tempelschätzen, die Pilger über viele Jahre gestiftet hatten, und bedeckten ihn mit Sand, sodass niemand mehr wusste, wo er lag. Damit machten sie nicht nur das Wasser unzugänglich, sondern auch einen Teil der religiösen Geschichte unsichtbar.
Die Quraisch und Hubal: Götzendienst im Herzen der Kaaba
Nach der Vertreibung der Jurhum übernahm ein anderer Stamm die Herrschaft – die Quraisch, die ebenfalls zu Ismaels Linie gehörten, aber früher nach Süden ausgewandert und nun zurückgekehrt waren. Doch auch sie begingen einen verhängnisvollen Fehler: Sie suchten nicht nach dem verschütteten Zamzam-Brunnen. Andere Brunnen existierten inzwischen, also galt Zamzam als nicht mehr nötig. Das Geschenk Gottes geriet fast völlig in Vergessenheit.
Schlimmer noch: Einer ihrer Stammesführer holte auf einer Handelsreise nach Syrien bei den Moabiten einen Götzen namens Hubal. Dieser wurde nach Mekka gebracht und in der Kaaba selbst aufgestellt – als Hauptgottheit der Mekaner. Damit wurde das Haus, das Abraham zur Verehrung des Einen Gottes gebaut hatte, zum Zentrum des Götzendienstes. Der Verlust war gewaltig: Verlust des reinen Glaubens, Verlust des unmittelbaren Gottesbezugs, Verlust des Zamzam-Brunnens, Verlust der richtigen abrahamitischen Riten, Verlust der geistigen Orientierung.
Qusayy: Die Konsolidierung der Macht
In dieser geistigen Dunkelheit vollzog sich dennoch eine wichtige politische Entwicklung. Um das Jahr 400 nach Christus heiratete Qusayy aus dem Stamm der Quraisch die Tochter des damaligen Herrschers von Mekka. Außergewöhnlich begabt, wurde er nach einem Konflikt zum Herrscher Mekkas und Wächter der Kaaba ernannt.
Qusayy transformierte Mekka fundamental. Er brachte seine Verwandten in die Stadt, ließ Häuser anstelle von Zelten bauen und gründete die Hausratsversammlung (Dar an-Nadwa), wo wichtige Entscheidungen getroffen wurden. Er organisierte, dass Pilger Nahrung und Wasser erhielten – eine Vorform der späteren Pilgerversorgung.
Der Konflikt der Nachkommen
Qusayy hatte mehrere Söhne. Einer war Abd Manaf, besonders beliebt und fähig. Dennoch gab Qusayy seinem ältesten Sohn Abd ad-Dar alle religiösen und politischen Ehrenämter. Nach Qusayys Tod entbrannte Streit zwischen den Nachkommen der beiden Brüder. Zwei große Gruppen entstanden:
- Die „Duftenden“ (Anhänger von Abd Manafs Sohn Hashim)
- Die „Bundesgenossen“ (Anhänger von Abd ad-Dar)
Beinahe hätten beide Gruppen außerhalb des heiligen Bezirks gekämpft – was strengstens verboten war. Schließlich einigte man sich auf einen Kompromiss: Die Söhne Abd Manafs übernahmen die Versorgung der Pilger und die Verwaltung der Abgaben. Die Söhne Abd ad-Dars behielten den Schlüssel der Kaaba und die Ratsversammlung.
Hashim: Der Begründer des Handels
Hashim, ein sehr angesehener Mann aus der Familie Abd Manafs, organisierte die beiden großen Handelskarawanen, die Mekka zu einem wirtschaftlichen Zentrum machten:
- Die Winterkarawane in den Jemen
- Die Sommerkarawane nach Syrien und Palästina
Auf einer dieser Handelsreisen heiratete Hashim in Yathrib (später Medina) Salma bint Amr. Ihr Sohn hieß Shaybah – ein Name, der bald durch einen Beinamen überschattet werden sollte.
Abdul Muttalib: Der Mann mit zwei Namen
Als Hashim auf einer Handelsreise in Gaza starb, blieb sein Sohn Shaybah bei seiner Mutter in Yathrib. Jahre später holte sein Onkel Muttalib den Jungen nach Mekka. Als die Leute ihn sahen, dachten sie, er sei Mutalibs Diener. So erhielt Shaybah den berühmten Beinamen, unter dem er in die Geschichte einging: Abdul Muttalib – „Diener des Muttalib“.
Abdul Muttalib wurde sehr geehrt und übernahm später die Versorgung der Pilger wie sein Vater und sein Onkel vor ihm. Er sollte eine Schlüsselrolle in der unmittelbaren Vorgeschichte der prophetischen Mission spielen – doch diese Geschichte gehört zu den nächsten Kapiteln der Sira, die von seiner Wiederentdeckung des Zamzam-Brunnens und dem dramatischen Schwur erzählen, einen seiner Söhne zu opfern.
Die Bedeutung der Vorgeschichte
Diese Kapitel der Sira verdeutlichen eine zentrale Wahrheit: Die Botschaft Muhammads (s.a.v.) kam nicht zufällig. Sie kam in eine Welt, die den reinen Monotheismus Abrahams verloren hatte, aber durch die Kaaba und die Pilgerriten noch eine Erinnerung daran bewahrte. Sie kam in eine Stadt, die durch Handel und religiöse Bedeutung zu einem Zentrum Arabiens geworden war. Sie kam zu einem Volk, das spirituell verloren war, aber politisch organisiert.
Der Götzendienst in Mekka war nicht ursprünglich. Er war eine Verfälschung, eine Abweichung von der abrahamitischen Religion. Die prophetische Botschaft würde nicht etwas völlig Neues bringen, sondern eine Wiederherstellung – eine Rückkehr zur ursprünglichen Reinheit des Monotheismus, den Abraham und Ismail gepredigt hatten.
Abdul Muttalib, der Großvater des Propheten, steht an der Schwelle zwischen diesem langen Niedergang und der kommenden Erneuerung. Seine Geschichte bildet die Brücke zwischen der verlorenen abrahamitischen Tradition und ihrer prophetischen Wiederherstellung.



