Die Rolle des Kindes im Islam

📅 30. Januar 2023
👥 VAFA Team
🏛️ Vorträge
⏱️ 10 Min. Lesezeit

Diese Vortragszusammenfassung behandelt die Verantwortung und Pflichten von Kindern gegenüber ihren Eltern im Islam, basierend auf unserem wöchentlichen Vortrag vom 29. Januar 2023.

Dankbarkeit als Fundament: Sure 16:72

Der Vortrag beginnt mit einem zentralen Koranvers aus Sure 16 (An-Nahl), Vers 72: „Und Allah hat euch aus euch selbst Gattinnen gemacht und von euren Gattinnen Söhne und Enkel gemacht und von euch von den guten Dingen versorgt. Wollen sie denn an das Falsche glauben und Allahs Gunst verleugnen?“

Dieser Vers etabliert ein fundamentales Prinzip: Jedes Familienmitglied ist eine Nimet – ein Segen, aber auch ein Zweck. Das arabische Wort Nimet bedeutet nicht nur „Gutes“ oder „Segen“, sondern auch, dass etwas einen höheren Zweck erfüllt. Es hat einen Grund, warum Allah dich in diese spezifische Familie hineingeboren hat – mit genau diesen Eltern, Geschwistern und Lebensumständen.

Der Vers betont, dass Dankbarkeit gegenüber den Familienmitgliedern, insbesondere gegenüber den Eltern, keine Option ist, sondern eine göttliche Verpflichtung. Interessanterweise schließt der Koranvers damit, dass Allah ein Ultimatum zwischen Glaube und Unglaube stellt. Das bedeutet: Dein Iman wird daran gemessen, wie dankbar du für deine Eltern bist.

Der höhere Zweck hinter schwierigen Eltern

Diese Lehre mag für Menschen mit liebevollen, unterstützenden Eltern leicht zu verstehen sein. Aber was ist mit jenen, deren Eltern schwierig, fordernd oder sogar verletzend sind? Der Vortrag thematisiert eine erschütternde Anekdote: Ein alter Mann, der pflegebedürftig wurde, sagte zu seinem Sohn während des Fütterns: „Ich habe dich nicht mal so viel geliebt wie meinen Köter.“ Trotzdem gab der Sohn ihm weiter Essen und sorgte für ihn.

Selbst in einer solchen Situation muss man dankbar sein. Warum? Weil unterschiedliche Familienkonstellationen unterschiedliche Lektionen ermöglichen. Jemand, der aus einem harmonischen Familienhaushalt kommt, wird niemals die Barmherzigkeit verstehen, die jemand entwickeln kann, der mit schwierigen Eltern aufgewachsen ist. Umgekehrt wird jemand aus schwierigen Verhältnissen die Leichtigkeit und Dankbarkeit nicht kennen, die jemand mit guten Eltern empfindet.

Allah gibt jedem Menschen die Kraft, mit seiner spezifischen Situation umzugehen. Wenn du gute Eltern hast, bist du dankbar für das leichte Leben. Wenn du schwierige Eltern hast, wirst du dankbar sein für die Möglichkeit, unzählige Hassanat (gute Taten) zu sammeln. Bei schwierigen Eltern sind die Anforderungen niedriger – sie sind schon mit den einfachsten Dingen zufrieden. Bei guten Eltern sind die Erwartungen höher, aber dafür ist das Leben angenehmer.

Sure 47:24 – Denken wir über den Koran nach?

In Sure 47 (Muhammad), Vers 24 stellt Allah eine beunruhigende Frage: „Denken sie denn nicht sorgfältig über den Koran nach, oder sind an diesen Herzen deren Verriegelung angebracht?“ Diese Frage bezieht sich auch auf den Gehorsam gegenüber den Eltern. Allah befiehlt an mehr als zehn Stellen im Koran den Gehorsam gegenüber den Eltern.

Die Frage ist provokativ: Hat Allah eure Herzen verriegelt, sodass ihr das nicht versteht? Als Muslime müssen wir darauf achten, dass wir das nicht zulassen. Wenn wir bestimmte Koranverse nicht verstehen – besonders jene über den Gehorsam gegenüber Eltern – dann müssen wir beten: „Oh Allah, bitte bereite mein Herz darauf vor, das zu verstehen.“

Der Koran sagt in Sure 17:23-24: „Dein Herr hat bestimmt, dass ihr ihn alleine anbeten sollt und dass ihr gegen eure Eltern gütig seid, auch wenn der eine von ihnen oder beide bei dir ins hohe Alter kommen. Sag daher nicht ‚Uff!‘ zu ihnen und schelte sie nicht, sondern rede mit ihnen auf ehrerbietige Weise. Und bedecke sie demütig mit den Flügeln der Barmherzigkeit und bitte: ‚O mein Erhalter! Erbarme dich beider so (barmherzig), wie sie mich aufzogen, als ich klein war!'“

Allah verbindet den Gehorsam Ihm gegenüber direkt mit dem Gehorsam gegenüber den Eltern. Nicht einmal „Uff“ – ein wortloser Ausdruck des Ärgers – ist erlaubt. Diese Direktheit zeigt die fundamentale Bedeutung des Respekts gegenüber den Eltern.

Historische Beispiele: Wenn selbst Tawaf nicht ausreicht

Eine eindrucksvolle Geschichte illustriert die Tiefe dieser Verpflichtung. Hassan al-Basri, einer der bedeutendsten frühen islamischen Gelehrten (642-728 n. Chr.), besuchte die Kaaba. Dabei sah er einen Mann, der mit einem Tragekorb auf dem Rücken den Tawaf (Umkreisen der Kaaba) vollzog. Hassan al-Basri fragte: „Kamerad, würde es nicht besser sein, wenn du die Last auf dem Rücken niederlassen würdest?“

Der Mann antwortete: „Was auf meinem Rücken ist, ist keine Last, sondern mein Vater. Zum siebten Mal habe ich ihn hierher getragen, um den Umlauf der heiligen Kaaba auszuführen. Denn er ist es, der mich den Glauben und die Religion gelehrt hat. Er hat mich in der Moral des Islam erzogen.“

Hassan al-Basri gab eine bemerkenswerte Antwort: „Wenn du ihn bis zum Auferstehungstag auf deinem Rücken trügest und den Umlauf der heiligen Kaaba ausführen würdest, wäre dieser ganze Verdienst umsonst, wenn du ihn einmal kränkst. Aber wenn du einmal sein Herz gewinnst, ist es diesem Verdienst gleich.“

Diese Geschichte verdeutlicht zwei Wahrheiten: Erstens ist physische Fürsorge allein nicht ausreichend – das Herz der Eltern zu gewinnen ist entscheidend. Zweitens wiegt eine einzige Kränkung der Eltern so schwer, dass sie Jahre der guten Taten zunichtemachen kann. Umgekehrt hat die Freude, die man den Eltern bereitet, einen enormen Wert vor Allah.

Pflichten auch nach dem Tod der Eltern

Ein Gefährte fragte den Propheten Muhammad (Friede sei mit ihm): „Meine Eltern sind gestorben, was soll ich für sie tun?“ Der Prophet antwortete: „Bete immer, rezitiere den heiligen Koran und bitte um Vergebung für sie.“ Als weiter gefragt wurde, fügte der Prophet hinzu: „Gebt Almosen und erfüllt die Pilgerfahrt für sie.“

Dieser Hadith zeigt, dass die Verantwortung gegenüber den Eltern nicht mit ihrem Tod endet. Im Gegenteil – Bittgebete, Koranrezitationen, Sadaqa (Almosen) und sogar die Pilgerfahrt in ihrem Namen sind Wege, ihnen weiterhin Gutes zu tun. Im Islam gilt: „Wenn ein Mensch stirbt, enden alle seine Taten, außer drei: Sadaqa Jariya (kontinuierliche Wohltätigkeit), nützliches Wissen und ein rechtschaffenes Kind, das für ihn betet.“

Die gefühllose Eltern-Frage

Ein Mann fragte den Propheten: „Meine Eltern sind gefühllos, wie soll ich ihnen gehorchen?“ Die Antwort des Propheten war klar: „Deine Mutter hat dich neun Monate bei sich getragen, zwei Jahre lang stillte sie dich. Bis du gewachsen bist, nährte, bewahrte und trug sie dich in ihrem Schoß. Dein Vater sicherte deinen Lebensunterhalt mit vielen Schwierigkeiten. Dich haben sie deine Religion und deinen Glauben gelehrt. Sie haben dich mit der Moral des Islams erzogen. Wie können sie nun nicht mitleidig sein? Gibt es ein größeres wertvolles Mitleid als das?“

Diese Antwort ist fundamental: Was deine Eltern bereits für dich getan haben, reicht aus, um lebenslange Dankbarkeit zu rechtfertigen. Die Schwangerschaft, das Stillen, die Jahre der Fürsorge, die Opfer für deinen Lebensunterhalt – all das sind unschätzbare Gaben, die nie vollständig zurückgezahlt werden können.

Die Elternperspektive verstehen

Der Vortragende teilte eine persönliche Erkenntnis: „Das habe ich erst verstanden, seitdem ich Vater bin. Ich dachte vorher, ich verstehe, was das ist, Vater zu sein und diese Sorgen, aber wartet ab, bis ihr Eltern seid.“

Er beschrieb eine nächtliche Szene: 3:12 Uhr morgens, der Wecker klingelt um 5:30 Uhr für die Arbeit. Das Kind weint so heftig, dass die Mutter selbst am Weinen ist und nicht mehr ansprechbar. Der Vater steht da mit dem weinenden Kind im Arm, voller Sorge, nicht wissend, was los ist.

Diese Sorgen der Eltern kann man nur verstehen, wenn man selbst Elternteil geworden ist – und für Mütter ist die Erfahrung noch intensiver. Ein Kind kann diese Opfer nie vollständig zurückzahlen. Wie soll ein Kind jemandem zurückzahlen, was unbezahlbar ist?

Keine Engel, keine Teufel: Die Realität der Siyaset

Eine wichtige Klarstellung: Keiner von uns und keine Eltern sind Engel oder Teufel. Allah hat Engel und Teufel bereits geschaffen – diese Rollen sind besetzt. Menschen sind Menschen, mit Stärken und Schwächen. Das Einzige, worauf es ankommt, ist Siyaset – der geschickte, weise Umgang mit Situationen.

Siyaset bedeutet, zu verstehen, dass man einen Menschen vor sich hat. Jeder Mensch drückt seine Gefühle anders aus. Es gibt Situationen, in denen man als Sohn oder Tochter vor seinem Familienmitglied sitzt und sich denkt: „War das jetzt nötig?“ Aber unsere Pflicht als Muslim ist es immer noch zu hinterfragen: Was ist der höhere Sinn, was ist der höhere Zweck dahinter?

Grenzen des Gehorsams

Eine wichtige theologische Klarstellung: Der Gehorsam gegenüber den Eltern hat Grenzen. Man muss den Eltern in allem gehorchen, solange sie nichts verlangen, was dem Islam widerspricht. Der Prophet sagte: „Es darf keinem Geschöpf gehorcht werden, wenn dies Ungehorsam gegenüber dem Schöpfer bedeutet.“

Allah sagt in Sure 29:8: „Und Wir haben dem Menschen anbefohlen, seine Eltern mit Güte zu behandeln. Wenn sie sich aber darum bemühen, dass du Mir das beigesellst, wovon du kein Wissen hast, dann gehorche ihnen nicht!“

Selbst wenn Eltern Unglauben von ihren Kindern verlangen, muss man ihnen nicht gehorchen – aber man muss sie dennoch respektvoll und gütig behandeln. Sure 31:15 macht dies deutlich: „Wenn sie sich aber darum bemühen, dass du Mir das beigesellst, wovon du kein Wissen hast, dann gehorche ihnen nicht, doch geh mit ihnen im Diesseits in rechtlicher Weise um!“

Die besondere Stellung der Mutter

Besonders die Mutter verdient höchste Anerkennung. In einem berühmten Hadith fragte ein Mann den Propheten: „Wen soll ich am besten behandeln?“ Der Prophet antwortete: „Deine Mutter.“ Der Mann fragte: „Und wen danach?“ Der Prophet antwortete: „Deine Mutter.“ Der Mann fragte noch einmal: „Und wen danach?“ Der Prophet antwortete: „Deine Mutter.“ Erst beim vierten Mal sagte der Prophet: „Deinen Vater.“

Der Prophet sagte auch: „Das Paradies liegt zu Füßen der Mütter.“ Dies unterstreicht die außergewöhnliche Stellung der Mutter im Islam, basierend auf ihren Opfern während Schwangerschaft, Geburt und der jahrelangen Fürsorge.

Die schwere Sünde des Ungehorsams

Der Prophet bezeichnete den Ungehorsam gegenüber den Eltern als eine der schwersten Sünden. Als die Gefährten ihn nach den großen Sünden fragten, antwortete er in folgender Reihenfolge: 1. Allah etwas beizugesellen (Shirk), 2. Sich Vater und Mutter zu widersetzen, 3. Falsches Zeugnis ablegen.

In einem anderen Hadith heißt es, dass es drei Arten von Menschen gibt, die Allah am Tag des Gerichts nicht anschauen wird – sie sind von Seiner Barmherzigkeit ausgeschlossen. Die erste Gruppe sind jene, die nicht gut zu ihren Eltern sind und sie nicht respektieren.

Der Prophet warnte auch: „Allah wird die Strafen vieler Sünden bis zum Tag der Auferstehung verschieben; doch mit der Bestrafung jener, die sich ihrer Eltern widersetzt haben, wird Er schon im Diesseits beginnen.“

Fazit: Ein Ultimatum zwischen Glaube und Unglaube

Die Rolle des Kindes im Islam ist klar definiert: Gehorsam, Respekt, Güte und Dankbarkeit gegenüber den Eltern sind keine kulturellen Traditionen, sondern göttliche Gebote.

Diese Lehre ist nicht immer leicht zu verstehen, besonders für jene mit schwierigen Familienverhältnissen. Aber genau deshalb stellt Allah in Sure 47:24 die Frage: „Denken sie denn nicht sorgfältig über den Koran nach, oder sind an diesen Herzen deren Verriegelung angebracht?“ Wir müssen beten, dass Allah unsere Herzen öffnet, damit wir diese Wahrheit verstehen und leben können.

Letztendlich können wir als Kinder nie zurückzahlen, was unsere Eltern für uns getan haben. Aber wir können unser Bestes geben, sie zu ehren, für sie zu sorgen und ihr Herz zu gewinnen – sowohl in diesem Leben als auch durch Bittgebete nach ihrem Tod. Denn wie Hassan al-Basri sagte: Ein einziges Mal ihr Herz zu gewinnen, wiegt mehr als tausend Umrundungen der Kaaba mit ihnen auf dem Rücken.

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