
Stell dir vor: 800 Jahre lang liegt ein Brunnen verschüttet unter dem Sand Mekkas. Generationen kommen und gehen, die Geschichte verblasst zur Legende. Dann träumt ein Mann vier Nächte hintereinander von einer geheimnisvollen Botschaft. Am vierten Tag beginnt er zu graben – und entdeckt eines der bedeutendsten Heiligtümer des Islam. Diese Geschichte ist nicht nur ein historisches Ereignis, sondern der Auftakt zu einer Kette von Schicksalen, die zur Geburt des Propheten Muhammad (Friede sei mit ihm) führen wird.
Der vergessene Brunnen
Der Zamzam-Brunnen, der einst von Allah für Hagar und Ismael entstanden war, wurde nach Konflikten vom Stamm der Jurhum verschüttet und geriet in völlige Vergessenheit. Acht Jahrhunderte lang wussten die Mekkaner nicht, wo sich dieses kostbare Wasser befand, das ihre Vorfahren getränkt hatte.
Abdul Mutallib ibn Haschim, der Großvater des Propheten Muhammad, war zu seiner Zeit ein angesehener Mann in Mekka. Er war wohlhabend, ehrlich, weise und wurde zum Oberhaupt der Banu Haschim ernannt, wobei er das Amt der Bewirtung und Tränkung der Mekka-Pilger erbte. Doch eine Aufgabe lastete schwer auf ihm: Die Versorgung der Pilger mit Wasser in der trockenen Wüstenstadt war eine gewaltige Herausforderung. Er hatte nur einen Sohn, Harith, der ihm bei dieser mühsamen Arbeit half.
Die vier Träume
Abdul Mutallib liebte den Hijr Ismail, jenen halbrunden Bereich neben der Kaaba, unter dem die Überlieferung die Gräber von Hagar und Ismael verortet. Oft schlief er dort, in der Nähe des heiligen Hauses. In drei aufeinanderfolgenden Nächten erschien ihm eine geheimnisvolle Gestalt im Traum. In der ersten Nacht hieß es: „Grabe nach süßer Reinheit (Tayyiba).“ In der zweiten: „Grabe nach reichem Überfluss (Barra).“ In der dritten: „Grabe nach dem verborgenen Schatz (Madnuna).“
Jedes Mal verschwand die Erscheinung, bevor Abdul Mutallib Klarheit erlangen konnte. In der vierten Nacht kam die entscheidende Offenbarung: „Grabe nach Zamzam. Er ist dein Erbe von deinem Größenahn. Er wird niemals versiegen und die Pilger für immer tränken.“ Die Gestalt beschrieb sogar den genauen Ort: ein Platz mit Blut, Dung, einem Ameisennest und Raben zwischen den beiden Götzenbildern Isaf und Na’ila.
Das Graben und der Widerstand
Am nächsten Morgen machte Abdul Mutallib die rituelle Umschreitung der Kaaba und betete. Während er betete, landeten zwei Raben genau an dem Ort, den der Traum beschrieben hatte. Er wusste: Hier muss er graben.
Er holte seinen Sohn Harith und begann zu graben. Die Mekkaner waren empört. „Wie kannst du an einem Opferplatz der Götzen graben?“, schrien sie. Doch Abdul Mutallib ließ sich nicht beirren. Er stellte Harith schützend vor sich und grub weiter.
Nach einer Weile stieß seine Hacke auf einen großen Stein, der den Brunnen bedeckte. Kurz darauf floss das Wasser des Zamzam-Brunnens wieder hervor – nach 800 Jahren Verschüttung. Die Menschen staunten. Doch sofort gab es Streit um die wertvollen Schätze, die der Stamm Jurhum einst im Brunnen vergraben hatte: Schwerte, Rüstungen und zwei goldene Gazellen.
Die Entscheidung durch das Los
Man entschied nach damaliger Tradition: Alles würde durch Lospfeile vor dem Götzen Hubal bestimmt. Das Ergebnis: Ein Teil des Schatzes ging an die Kaaba, der andere Teil an Abdul Mutallib. Die Quraisch erhielten nichts. Die Mekkaner erkannten schließlich an, dass die Pflege des Zamzam-Brunnens der Familie Abdul Mutallibs – der Sippe der Haschim – zustand, denn sie waren bereits für die Versorgung der Pilger verantwortlich.
Das Gelübde: Zehn Söhne
Abdul Mutallib hatte nur einen einzigen Sohn, der ihm helfen konnte. Andere Stammesführer hatten viele Söhne, die sie schützen konnten. In seiner Sorge legte er ein Gelübde ab: „O Allah, wenn du mir zehn erwachsene Söhne schenkst, werde ich einen von ihnen bei der Kaaba opfern.“
Als Abdul Mutallib beim Graben des Zamzam-Brunnens nur einen Sohn hatte und die Quraisch seinen Besitz des Brunnens bestritten, erkannte er, wie verletzlich er war. Dieses Gelübde war seine Antwort – ein ernstes Versprechen an Allah.
Allah erhörte sein Gebet. Mit den Jahren bekam er tatsächlich zehn Söhne. Doch ein Mann wie Abdul Mutallib bricht niemals sein Wort. Um selbst keine Entscheidung treffen zu müssen, ließ er seine Söhne Lospfeile ziehen. Die Zeremonie fand in der Kaaba statt. Dann geschah, was er am meisten fürchtete: Das Los fiel auf Abdullah, seinen jüngsten und schönsten Sohn.
Die Erlösung
Abdul Mutallib nahm seinen Sohn und war bereit, ihn sofort zu opfern, ohne zu zögern. Als er mit Messer und Sohn herauskam, begannen die Frauen und der Stamm der Makhzum zu schreien: „Du wirst ihn nicht töten! Wir werden ihn freikaufen!“ Auch seine anderen Söhne flehten ihn an.
Er wollte sie nicht enttäuschen, aber er wollte auch sein Versprechen nicht brechen. Eine weise Frau wurde konsultiert. Sie sagte: „Euer Blutgeld beträgt zehn Kamele. Stellt Abdullah neben zehn Kamele und zieht das Los. Wenn das Los auf Abdullah fällt, fügt weitere zehn Kamele hinzu und zieht erneut. Gott wird zeigen, wann Er zufrieden ist.“
Zurück in Mekka wurde gelost. Zehn Kamele – das Los fiel auf Abdullah. Zwanzig Kamele – wieder Abdullah. Dreißig, vierzig… Die Spannung stieg mit jedem Mal. Bei hundert Kamelen fiel das Los endlich auf die Kamele. Zur Sicherheit wurde dreimal gezogen. Jedes Mal zeigte der Pfeil auf die Kamele.
Abdul Mutallib schlachtete daraufhin alle hundert Kamele zwischen Safa und Marwa und bereitete für die Menschen ein Festmahl. Weder er noch seine Söhne aßen davon. Allah hatte die Kamele als Ersatz akzeptiert. Abdullah war verschont.
Die Erhöhung des Blutgeldes
Diese Ereignis hatte weitreichende Folgen. Bis zu jener Zeit betrug das Blutgeld zehn Kamele. Abdul Mutallib erhöhte es auf hundert Kamele für ein Menschenleben. Die Quraisch sowie die übrigen Araber übernahmen diese Praxis, und auch der Prophet Muhammad bestätigte sie später im Islam.
Ibn al-Dhabihayn: Sohn der zwei Geopferten
Der Prophet Muhammad wird als „Ibn al-Dhabihayn“ (Sohn der beiden Geopferten) bezeichnet. Der Grund: Sowohl sein Vater Abdullah als auch sein Vorfahr, der Prophet Ismael, waren zur Opferung vorgesehen, doch Allah verschonte beide.
Abdullah überlebte und heiratete später Amina. Aus dieser Verbindung wurde der Prophet Muhammad geboren. Die Kette der Schicksale, die mit dem Traum vom Zamzam begann, führte direkt zur Geburt des letzten Gesandten.
Die Parallele zu Ibrahim und Ismael
Die Geschichte erinnert an Sure 37:102-107, wo Ibrahim im Traum sieht, dass er seinen Sohn Ismael opfern soll. Als beide sich dem Willen Allahs ergeben hatten und Ibrahim ihn mit der Stirn zum Boden hingelegt hatte, rief Allah ihm zu: „O Abraham, du hast bereits das Traumgesicht erfüllt.“ Und Allah löste ihn aus durch ein großes Opfer.
Diese Parallele ist nicht zufällig. Sie zeigt ein fundamentales Prinzip: Allah verlangt keine ungerechten Opfer. Im Koran wird betont, dass weder Fleisch noch Blut der Opfertiere Allah erreichen, sondern die Frömmigkeit des Opfernden. Die Bereitschaft zur völligen Hingabe an Allah ist das wahre Opfer, nicht das Blutvergießen selbst.
Die Weisheit hinter den Prüfungen
Was lehren uns diese Geschichten?
Erstens: Gottes Geschenke gehen niemals verloren. Der Zamzam-Brunnen war 800 Jahre verschüttet, doch zur rechten Zeit wurde er wiederentdeckt.
Zweitens: Versprechen an Allah sind heilig, aber Allah ist barmherzig und zeigt Wege der Gerechtigkeit.
Drittens: Scheinbar kleine Entscheidungen haben gewaltige Konsequenzen. Hätte Abdullah nicht überlebt, wäre der Prophet Muhammad nie geboren worden.
Abdul Mutallib handelte nach seinem Gelübde, aber er suchte auch Rat und akzeptierte eine gerechte Lösung. Es ist überliefert, dass Abdul Mutallib Allah anbetete, Ungerechtigkeit und Unzucht als schwerwiegende Verfehlungen ansah und häufig den Tawaf um die Kaaba vollzog. Er war ein Mann, der die Prinzipien des monotheistischen Glaubens lebte, auch in einer Zeit, die vom Götzendienst geprägt war.
Das Vermächtnis
Die Wiederentdeckung des Zamzam-Brunnens war mehr als ein praktischer Gewinn für Mekka. Der Brunnen liegt nur wenige Schritte von der Kaaba entfernt und wird heute von Millionen Pilgern besucht, die das gesegnete Wasser trinken. Es ist ein nie versiegendes Zeichen göttlicher Barmherzigkeit.
Abdullah, der gerettete Sohn, war besonders schön, und seine Stirn glänzte so sehr, dass es schien, als strahle Licht daraus. Dies galt als Zeichen dafür, dass in seiner Nachkommenschaft ein Prophet erscheinen würde. Viele Frauen wollten ihn heiraten, doch er heiratete Amina – und wurde der Vater des Propheten Muhammad.
Die Geschichte endet nicht mit der Rettung Abdullahs. Sie beginnt dort. Aus diesem geretteten Leben entsprang die größte Barmherzigkeit für die Menschheit: der letzte Prophet, der Gesandte Allahs.



