
Diese Vortragszusammenfassung behandelt die islamische Ethik (Ahlak) in Partnerschaft und Elternschaft, basierend auf unserem wöchentlichen Vortrag vom 14. Mai 2023.
Der Mensch vor dir: Fundament jeder Beziehung
Wenn wir über Ahlak in der Ehe sprechen, beginnt alles mit einer fundamentalen Wahrheit: Vor dir steht ein Mensch. Nicht ein Ideal, nicht eine Projektion, sondern ein Individuum mit eigener Geschichte, eigenen Werten und eigener Vorstellung von Perfektion. Diese Erkenntnis mag selbstverständlich klingen, ist aber in der Praxis eine der größten Herausforderungen. Jeder Partner wurde durch seine Erlebnisse zu dem, was er heute ist – mit unterschiedlichen Ansichten über Sauberkeit, Ordnung, Familie und selbst darüber, wie der Islam gelebt werden soll.
Respekt bedeutet in diesem Kontext mehr als Höflichkeit. Es bedeutet Empathie: Kann ich von meinem Partner erwarten, was ich erwarte? Ist er oder sie überhaupt mit diesen Werten aufgewachsen? Diese Fragen sind keine Einbahnstraße – beide Ehepartner müssen sich damit auseinandersetzen. Der Prophet Muhammad (Friede sei mit ihm) betonte wiederholt die Bedeutung des gegenseitigen Respekts: „Die Frauen haben den gleichen Wert wie die Männer“, und „Der vollkommenste Gläubige ist der mit dem besten Charakter. Die besten von euch sind diejenigen, die am besten zu ihren Frauen sind“.
Zulm: Unterdrückung beginnt im Kleinen
Im Islam hat der Begriff Zulm (Unterdrückung) eine weitreichendere Bedeutung als im allgemeinen Sprachgebrauch. Zulm kann sogar übermäßige Liebe sein, wenn sie dazu führt, dass man unrealistische Erwartungen an den Partner stellt. Wenn du Dinge von deinem Gegenüber erwartest, die nicht human sind – Dinge, für die dieser Mensch gar nicht aufgewachsen ist – dann ist das Zulm.
Ein häufiger Fehler entsteht bereits vor der Ehe: der Gedanke, den Partner nach der Hochzeit verändern zu können. Stell dir vor, beide Partner denken so – würdest du das nicht als merkwürdig empfinden? Du hast deinen Partner so geheiratet, wie er ist. Natürlich können Menschen nach der Ehe andere Gewohnheiten entwickeln, weil das Eheleben eine neue Erfahrung darstellt. Aber auf grundlegende charakterliche Veränderungen zu hoffen, ist unrealistisch und unfair.
Auf der Seite des Rechts stehen
Eine weitere zentrale Lehre betrifft die Gerechtigkeit: Egal wer es ist – Partner oder Kind – man muss immer auf der Seite des Rechts stehen. Der Prophet Muhammad (Friede sei mit ihm) demonstrierte dies eindrücklich, als ein Gläubiger fordernd sein Geld zurückverlangte und die Sahaba einschreiten wollten. Der Prophet sagte sinngemäß: „Seid auf der Seite desjenigen, der recht hat.“ Dann fügte er hinzu, dass eine Gesellschaft zerstört wird, wenn Menschen aus Sympathie für geliebte Personen nicht mehr auf der Seite der Gerechtigkeit stehen.
Dies gilt auch innerhalb der Familie. Man darf Partner oder Kinder nicht „anbeten“ im Sinne von: ihre Fehler ignorieren oder sie vor jeder Kritik abschirmen. Wenn der Partner Fehler macht, musst du es ansprechen – auf eine Weise, die verstanden wird. Und wenn der Partner große Fehler begeht und deine Worte nicht hört, dann muss jemand hinzugezogen werden, dessen Wort Gewicht hat.
Ahlak des Mannes: Verantwortung und Vorbildfunktion
Dem Ehemann muss seine Verantwortung in vollem Umfang bewusst sein. Diese Verantwortung ist umfassend: Stell dir vor, du bist mit deiner Familie im Ausland und es bricht Krieg aus – du bist die einzige Person, die für deine Familie zuständig ist. In diesem Ausmaß trägt der Mann Verantwortung, selbst wenn im Alltag Familie und Freunde unterstützen können.
Der Mann muss vorleben, was er erwartet. Du kannst nicht Verhaltensweisen an den Tag legen, die nicht mit dem Islam vereinbar sind, und gleichzeitig von deiner Frau islamisches Verhalten erwarten. Der Prophet lehrte durch sein eigenes Beispiel: Er sollte lächeln, sie nicht emotional verletzen, alles was ihr schaden könnte von ihr fernhalten, sanft zu ihr sein und Geduld mit ihr haben.
Ein kritischer Punkt betrifft den häufigsten Fehler vieler Männer: nach der Ehe den Partner verändern zu wollen. Trägt deine Frau ein Kopftuch? Kann sie dazu gezwungen werden? Die Antwort ist klar: Nein. Du hast sie so genommen, wie sie ist. Wenn dir etwas wichtig ist, musst du das vor der Ehe klären – durch offene Gespräche über Erwartungen, Kindererziehung und Lebensentwürfe. Natürlich gibt es rote Grenzen: Wenn der Partner nach der Ehe beginnt, Dinge zu tun, die fundamental gegen den Islam verstoßen, dann gibt es Schritte zur Korrektur der Ehe. Aber auch das folgt einem Prozess, nicht einer impulsiven Reaktion.
Der Mann muss in der Ehe Ruhe bewahren. Solange die Frau Iman hat, ist die Grundlage vorhanden. Diese Haltung zeigt sich im Leben der Propheten und ihrer Gefährten.
Ahlak der Frau: Shukr und Kanat
Für die Ehefrau sind Dankbarkeit (Shukr) und Zufriedenheit (Kanat) zentrale Eigenschaften. Shukr bedeutet aktive Dankbarkeit für das, was der Mann bietet. Kanat beschreibt die Fähigkeit, mit dem zufrieden zu sein, was man hat – eine Form der Bescheidenheit. Diese Eigenschaften stehen gegen die menschliche Neigung, immer mehr zu wollen. Geld und materieller Besitz sind wie ein schwarzes Loch – man wird nie wirklich gesättigt, wie es auch in einem Hadith beschrieben wird.
Gehorsam gegenüber dem Ehemann ist wichtig, solange es keine Sünde gegenüber Allah ist. Der Koran stellt klar: „Die Männer stehen in Verantwortung für die Frauen wegen dessen, womit Allah die einen von ihnen vor den anderen ausgezeichnet hat und weil sie von ihrem Besitz (für sie) ausgeben“ (Sure 4:34). Dieser Gehorsam darf nicht mit extremem Feminismus verwechselt werden, der zu Ungehorsam führt. Historisch gesehen hatte der frühe Feminismus berechtigte Anliegen – Frauen in Europa hatten kaum Rechte und wurden teilweise als Hexen verbrannt. Jeder Muslim würde solches Unrecht ablehnen. Aber der Islam hat Frauen bereits vor 1400 Jahren Rechte gegeben, die in Europa erst viel später erkämpft wurden.
Respekt muss gegenseitig sein. Wenn Eheleute den Respekt und die Sensibilität, die sie anderen erweisen, auch einander gegenüber aufbringen, verwandelt sich ihr Leben in ein Paradies. Eine Anekdote aus der Zeit der Sahaba verdeutlicht dies: Ein Sahabi fragte eine verheiratete Frau, warum sie mit einem als unattraktiv geltenden Mann verheiratet sei. Ihre Antwort war bemerkenswert: „Vielleicht gibt mir Allah im Jenseits einen Lohn dafür, dass ich bei ihm geblieben bin.“ Diese Geschichte zeigt die Tiefe von Respekt und Geduld in der Ehe.
Ahlak zu Kindern: Entscheidungen respektieren
Während wir letzte Woche über die Pflichten der Kinder gegenüber Eltern gesprochen haben, geht es heute um die Verantwortung der Eltern. Die Kernaussage ist eindeutig: Du musst die Entscheidungen deines Kindes respektieren. Wir dürfen nicht vergessen, dass auch unser Kind ein Mensch ist – ein Individuum mit eigenem Willen. Wie viel wollen wir selbst beeinflusst werden? Diese Reflexion hilft, die Perspektive zu verstehen.
Das Einzige, was Eltern tun können, ist, ihr Kind in die richtige Richtung zu lenken. Aber am Ende bleibt die Entscheidung beim Kind selbst. Diese Wahrheit wird durch die koranische Geschichte von Noah und seinem Sohn verdeutlicht. Noah rief seinen Sohn auf, mit auf die Arche zu steigen: „O mein Sohn, steig mit uns ein und bleibe nicht bei den Ungläubigen!“ Aber der Sohn lehnte ab und sagte: „Ich will mich sogleich auf einen Berg begeben, der mich vor dem Wasser retten wird.“ Die Woge kam und er ertrank.
Noah rief daraufhin zu seinem Herrn: „Mein Herr, mein Sohn gehört doch zu meiner Familie, und Dein Versprechen ist doch wahr.“ Aber Gott antwortete: „O Noah, er gehört nicht zu deiner Familie; siehe, dies ist kein rechtschaffenes Benehnen. So frage Mich nicht nach dem, von dem du keine Kenntnis hast“. Diese Geschichte lehrt uns: Noah musste die Entscheidung seines Sohnes respektieren, auch wenn sie zum Untergang führte. Von Milliarden Menschen wird uns dieses eine Beispiel gezeigt – um zu verdeutlichen, dass Eltern die Entscheidungen ihrer Kinder respektieren müssen.
Dein Kind ist ein Individuum. Vielleicht wird es Pikachu lieben – du musst es respektieren. Vielleicht will es einen Beruf ergreifen, den du nicht verstehst. Dann muss es diesen Weg dennoch gehen dürfen. Die einzige wirklich wirksame Erziehungsmethode ist das Vorleben. Du kannst deinem Kind nichts beibringen durch bloße Worte – nur durch Vorbild. Ein Imam erzählte von einer Familie, die beklagte, ihr Kind würde lügen. Als bei einem Telefonat die Mutter dem Kind sagte: „Sag, ich bin nicht da“, war der Grund klar. Wie soll das Kind ehrlich sein, wenn die Mutter Unehrlichkeit vorlebt?
Dabei ist wichtig: Das Kind darf nicht das Gefühl bekommen, es könne tun und lassen, was es will, weil die Eltern alles richten werden. Bei Recht stehst du bei deinem Kind – aber bei Unrecht bist du gerecht und stellst dich auch gegen dein Kind, wenn es nötig ist.
Ein besonderer Punkt betrifft Waisenkinder. Der Koran erwähnt mehrfach, wie gut man zu Waisen sein soll. Der Prophet Muhammad (Friede sei mit ihm) zeigte dies durch eine bewegende Geste: Er sah am Eid-Fest ein Waisenkind, nahm es an der Hand, führte es zu seinem Haus und fragte vor der Tür: „Erlaubst du mir, heute dein Vater zu sein?“ Diese Handlung ist ein Vorbild dafür, wie wir uns zu fremden Kindern, besonders Waisen, verhalten sollen – denn sie sind schwach und haben keine Familie.
Schlussfolgerung
Ahlak in Ehe und Familie bedeutet letztlich, den Menschen vor sich zu sehen – mit all seinen Stärken, Schwächen, seiner Vergangenheit und seinen Grenzen. Es bedeutet, Gerechtigkeit über Sympathie zu stellen, Vorbilder zu sein statt nur zu predigen, und die Entscheidungen anderer zu respektieren, auch wenn sie uns nicht gefallen. „Der Beste unter den Gläubigen in Bezug auf den Glauben ist der, dessen Moral gut ist und der seine Familie freundlich behandelt“, wie ein Hadith lehrt. Diese Prinzipien sind zeitlos und bilden das Fundament für harmonische Beziehungen, in denen jeder Mensch seine Würde behält und gleichzeitig in eine liebevolle Gemeinschaft eingebunden ist.



