Ahlak zu Eltern und Geschwistern

📅 08. Mai 2023
👥 VAFA Team
🏛️ Vorträge
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Ein junger Mann liegt im Sterben. Der Prophet Muhammad (Friede sei mit ihm) sitzt an seinem Bett und fordert ihn auf, das Glaubensbekenntnis zu sprechen. Doch der junge Mann kann nicht sprechen. Seine Zunge ist wie gelähmt. Der Prophet fragt: „Ist seine Mutter anwesend?“ Eine Frau antwortet: „Ja, ich bin seine Mutter.“ Der Prophet wendet sich an sie, doch sie weigert sich, ihm zu vergeben. Erst als der Prophet seine Hände auf ihre Augen legt und sie sieht, wie ihr Sohn in der Hölle brennt, vergibt sie ihm. Sofort kann der junge Mann die Shahada aussprechen und stirbt als Muslim.

Diese eindringliche Geschichte verdeutlicht eine fundamentale Wahrheit des Islam: Der gütige Umgang mit den Eltern – Birr al-Walidayn – ist von größter Bedeutung, wie in zahlreichen Versen des Quran und ebenso vielen Ahadith betont wird. Doch was bedeutet diese Verantwortung konkret in unserem Alltag? Und wie verhalten wir uns gegenüber Geschwistern, mit denen wir unser Leben teilen?

Die Macht des Segens der Eltern

Der Segen der Eltern hat eine Tragweite, die weit über unser diesseitiges Leben hinausgeht. In der islamischen Lehre ist er der Schlüssel zu Erfolg, Zufriedenheit und letztendlich zum Paradies. Al-Hasan Al Basri definierte Birr al-Walidayn als Gehorsam gegenüber den Eltern in allem, was sie verlangen, solange es nicht Ungehorsam gegenüber Allah bedeutet.

Die Geschichte vom sterbenden jungen Mann ist kein Einzelfall. Sie illustriert ein Prinzip, das durch zahlreiche Überlieferungen bestätigt wird: Ohne die Vergebung der Mutter kann selbst das Sterbegebet des Propheten Muhammad nichts bewirken. Der Segen der Eltern öffnet Türen – und seine Abwesenheit verschließt sie.

Der Nachbar des Propheten im Paradies

Eine andere Geschichte zeigt die außergewöhnliche Kraft der Elternliebe. Es wird überliefert, dass der Prophet Moses (Friede sei mit ihm) Allah fragte, wer sein Begleiter im Paradies sein würde. Allah offenbarte ihm, dass es ein Metzger sein würde – kein Gelehrter, kein Gottesdiener, sondern ein einfacher Metzger.

Moses war verwundert und besuchte den jungen Mann. Er begleitete ihn nach Hause und sah dort eine alte, behinderte Frau – die Mutter des Metzgers. Der junge Mann kümmerte sich aufopferungsvoll um sie, wusch sie, fütterte sie und versorgte sie mit allem, was sie brauchte. Nachts betete er für sie.

Als Moses sich zu erkennen gab und dem jungen Mann mitteilte, dass er sein Nachbar im Paradies sein würde, war dieser überwältigt. Seine Mutter sprach ein Gebet für ihn: „Mein Sohn, möge Allah niemals zulassen, dass deine Bemühungen um mich unbelohnt bleiben, und möge Er dich zum Gefährten von Moses, dem Sohn Imrans, im Paradies machen.“

Das Bemerkenswerte: Diese Mutter war Jüdin, keine Muslima. Und dennoch hatte ihr Gebet solch immense Kraft. Dies zeigt, dass die spirituelle Verbindung zwischen Mutter und Kind universell ist und jenseits konfessioneller Grenzen wirkt.

Die Familie als göttliche Zuteilung

Es gibt vieles im Leben, das wir uns aussuchen können – unseren Beruf, unsere Freunde, sogar unsere Religion im formalen Sinne. Doch eines können wir uns nicht aussuchen: unsere Eltern und Geschwister. Diese scheinbar willkürliche Zuteilung ist in Wahrheit göttliche Weisheit.

Unsere Familie ist für uns maßgeschneidert. Jede Erfahrung, die wir mit unseren Eltern machen – ob positiv oder schmerzhaft – formt uns zu der Person, die wir heute sind. Ein Kind, das von seinem Vater geschlagen wird, lernt auf die härteste Weise, wie es sich anfühlt. Diese Erfahrung kann es dazu befähigen, anderen zu helfen, die Ähnliches durchmachen, und vor allem: seine eigenen Kinder niemals so zu behandeln.

Allah legt uns keine Bürde auf, die wir nicht tragen können. Wenn wir also mit problematischen Eltern oder schwierigen Geschwisterbeziehungen konfrontiert sind, dann deshalb, weil Allah weiß, dass wir damit umgehen können – und dass wir daran wachsen werden.

Respekt bei Geschwistern: Organisch und authentisch

Anders als bei den Eltern, wo die Hierarchie und die Pflichten klar definiert sind, ist die Beziehung zu Geschwistern organisch. Es gibt kein Gesetzbuch, das vorschreibt: „Wenn du zu deinem Bruder auf diese Weise bist, wird er dich lieben.“ Die Dynamik entwickelt sich natürlich.

Dennoch gibt es wichtige Prinzipien zu beachten. Wenn du einen jüngeren Bruder hast, behandle ihn nicht als jemanden, der nichts zu sagen hat. Höre seine Meinung, respektiere seine Sichtweise. Wenn du einen älteren Bruder hast, zeige ihm durch dein Verhalten, dass du ihn respektierst. Bei Schwestern – besonders als Mann – musst du verstehen, dass Frauen oft emotionaler wahrnehmen. Passe deine Kommunikation entsprechend an, anstatt mit ihnen zu sprechen wie mit einem Kumpel.

Ein häufig übersehener Punkt: Innerhalb der Familie sagt einem oft niemand, wenn man respektlos ist oder Herzen bricht. Die Familie kennt dich zu gut und hat resigniert. Deswegen ist Selbstreflexion hier besonders wichtig.

Verantwortung als Maßstab der Reife

Respekt von Eltern und Geschwistern kommt nicht automatisch mit dem Alter. Er kommt mit Verantwortung. Wie viel übernimmst du tatsächlich?

Nehmen wir an, du wohnst noch bei deinen Eltern. Kümmerst du dich um den Haushalt wie ein Ehemann für seine Familie? Gehst du eigenständig einkaufen oder schreibt dir deine Mutter eine Liste mit dem, was benötigt wird? Wenn die Familie in den Urlaub fährt, übernimmst du Verantwortung oder bist du nur passiver Teilnehmer? Wenn jemand zu Hause krank wird, kannst du dich darum kümmern?

Diese Fragen sind nicht oberflächlich. Sie zeigen, ob du bereit bist für das Leben als erwachsener Mensch. Respekt kommt von der Bereitschaft, Lasten zu tragen – nicht nur von Worten oder guten Absichten.

Die Gefahr der Beschwerde

Ein kritischer Punkt, der oft übersehen wird: Sobald du anfängst, dich über deine Eltern oder Geschwister zu beschweren, wirst du zum Spielzeug des Teufels. Der Teufel streichelt deinen Stolz und flüstert dir ein: „Du bist gut. Du hast so viel getan. Die anderen sind das Problem.“

Diese Selbstgerechtigkeit ist Gift für die Seele. Der Prophet Muhammad (Friede sei mit ihm) wurde einmal vom Teufel selbst aufgesucht – auf Befehl Allahs, um ehrlich zu antworten. Der Teufel erklärte: „Wenn jemand eine gute Tat vollbringt, dann rede ich ihm so lange ein, dass er es mindestens drei Leuten erzählt. Und wenn er es drei Leuten erzählt hat, dann verbleibt so gut wie nichts von der guten Tat, weil er so stolz auf sich ist.“

Wenn du deinen problematischen Bruder besuchst und danach überall erzählst, wie schwierig das war und wie geduldig du warst, dann machst du genau das: Du vergiftest deine eigene Tat.

Wahre Güte: Wenn die Familie aufhört, gut zu sein

Der Prophet sagte: Gut zu seiner Familie zu sein bedeutet nicht, gut zu seiner Familie zu sein und Gutes zurückzubekommen. Das kann jeder – das ist einfaches Ping-Pong. Wahrhaft gut zu seiner Familie zu sein bedeutet, gut zu bleiben, auch wenn die Familie aufgehört hat, gut zu dir zu sein.

Wenn du einen Onkel hast, der jedes Mal Streit sucht, und du ihn trotzdem besuchst – dann bist du jemand, der wirklich Birr al-Walidayn praktiziert. Wenn deine Eltern liebevoll sind, deine Mutter Tee kocht, dein Vater mit den Kindern spielt – da geht jeder hin. Das ist keine besondere Leistung.

Die Gelehrten setzen als Bedingung für Birr al-Walidayn unter anderem: Man sollte das Vergnügen der Eltern über das Vergnügen jeder anderen Person stellen, einschließlich sich selbst. Dies gilt auch bei schwierigen Familienverhältnissen.

Und noch etwas Wichtiges: Deine Eltern zu besuchen, gut zu ihnen zu sein, das macht dich nicht besonders. Es ist deine Pflicht. Punkt. Allah legt dir keine Pflicht auf, die du nicht tragen kannst. Also jammere nicht darüber, als wärst du ein Held. Du tust, was von dir erwartet wird.

Die größten Sünden: Eltern verfluchen

Der Prophet nannte den schlechten Umgang mit Eltern als eine der größten Sünden (Kabair) nach dem Shirk (Götzendienst). Die Eltern zu verfluchen – sei es direkt oder indirekt – gehört zu den schwersten Vergehen im Islam.

Der Engel Jibril verfluchte denjenigen, der seine Eltern erreicht und nicht durch sie ins Paradies gelangt, und der Prophet sagte daraufhin: „Amen“. Das zeigt die ernste Natur dieser Sünde.

Allah akzeptiert nicht einmal das Gebet desjenigen, der seine Eltern böse anschaut – selbst wenn die Eltern ungerecht sind. Die Schwere dieser Sünde kann nicht überbetont werden.

Die richtige Absicht: Nur für Allah

Am Ende des Tages geht es um eines: die richtige Absicht. Wir leben in einer Welt, in der gute Taten oft zu Status-Symbolen werden. Charity-Videos gehen viral, weil Menschen Anerkennung suchen. Aber im Islam ist die beste gute Tat die, die nur Allah kennt.

Wenn du deine Eltern besuchst, wenn du gut zu deinen Geschwistern bist, wenn du Verantwortung übernimmst – tue es für Allah. Nicht um bei anderen gut dazustehen. Nicht um dir selbst auf die Schulter zu klopfen. Sondern weil es das Richtige ist.

Der Lohn liegt bei Allah. Und wie die Geschichte des Metzgers zeigt: Manchmal ist der Lohn größer, als wir es uns jemals vorstellen könnten.

Die Familie als Prüfung und Segen

Im Quran (31:14) heißt es: „Und Wir haben dem Menschen auferlegt, seine Eltern gut zu behandeln. Seine Mutter hat ihn mit Mühe auf Mühe getragen, und seine Entwöhnung dauert zwei Jahre. Sei Mir und deinen Eltern dankbar; zu Mir ist die Heimkehr.“

Die Familie ist sowohl Prüfung als auch Segen. Sie fordert uns heraus, über unseren Egoismus hinauszuwachsen. Sie zwingt uns, Verantwortung zu übernehmen, wenn wir lieber fliehen würden. Sie konfrontiert uns mit unseren Schwächen und gibt uns gleichzeitig die Möglichkeit, daran zu wachsen.

Die Beziehung zu Eltern und Geschwistern ist eine der wichtigsten spirituellen Übungen, die wir haben. Sie lehrt uns Geduld, Demut, Selbstlosigkeit und bedingungslose Liebe. Und sie öffnet – wenn wir sie richtig pflegen – die Türen zum Paradies.

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