
Diese Vortragszusammenfassung behandelt die Grundlagen und praktische Durchführung der islamischen Totenwaschung (Ghusl al-Mayyit), basierend auf unserem wöchentlichen Vortrag vom 2. November 2025.
Religiöse Grundlage und Bedeutung
Die Totenwaschung ist im Islam eine gemeinschaftliche Pflicht (Fard al-Kifaya), die der muslimischen Gemeinschaft gegenüber dem Verstorbenen obliegt. Wenn eine Person oder mehrere diese Pflicht erfüllen, ist die restliche Gemeinschaft davon befreit. Diese rituelle Handlung zielt nicht primär auf hygienische Säuberung ab, sondern auf das Erreichen ritueller Reinheit (Tahara) für den Verstorbenen.
Im Kern bedeutet Totenwaschung, dem Verstorbenen die große rituelle Waschung (Ghusl) durchführen zu lassen, wie sie auch Lebende in bestimmten Situationen vollziehen müssen.
Wer darf die Totenwaschung durchführen?
Die Regelungen zur Durchführung der Totenwaschung folgen klaren Vorgaben. Die Waschung sollte von erfahrenen, zuverlässigen und rechtschaffenen Personen durchgeführt werden. Grundsätzlich gilt: Frauen waschen Frauen, Männer waschen Männer.
Eine besondere Regelung besteht für Ehepartner: Eine Ehefrau darf ihren verstorbenen Ehemann waschen. Die umgekehrte Konstellation ist differenzierter zu betrachten: Ein Ehemann kann seine verstorbene Ehefrau nur dann waschen, wenn keine andere Frau verfügbar ist.
Unreine Personen sollten keine Totenwaschung vornehmen. Wer die große rituelle Waschung (Ghusl) beherrscht, verfügt über die grundlegende Qualifikation zur Durchführung der Totenwaschung. Darüber hinaus gibt es keine weiteren verpflichtenden Bedingungen.
Empfohlene Voraussetzungen und Vorbereitung
Der Waschende sollte idealerweise dem Verstorbenen nahestehen, über guten Charakter (Ahlak) verfügen und die Waschung fachkundig durchführen können.
Die Waschung sollte in geschlossenen Räumlichkeiten stattfinden. Notwendige Utensilien umfassen Wickeltücher, Putztücher, Seife und Watte. Ein Helfer erleichtert die Durchführung erheblich. Die Verwendung wohlriechender Substanzen während der Waschung ist empfohlen – sei es durch Duftkerzen, Räucherwerk oder Parfüm, das der Waschende bei sich trägt.
Das Wasser sollte weder zu kalt noch zu heiß sein, sondern eine angenehme, moderate Temperatur haben.
Praktische Durchführung der Totenwaschung
Vorbereitung des Verstorbenen
Der Verstorbene wird auf eine Vorrichtung gelegt. Vor Beginn werden eventuelle Pflaster, Schläuche oder Nadeln entfernt.
Die Bedeckung des Intimbereichs (Avret-Fläche) zwischen Knie und Bauchnabel ist verpflichtend. Die rituelle Absicht (Niya) wird gedacht, nicht ausgesprochen: „Eûzubillâhimineşşeytânirracîm, Bismillâhirrahmânirrahîm. Ich mache Niya, diesen Körper zu waschen.“ Diese Absicht erfolgt im Stillen, im Herzen des Waschenden.
Während der gesamten Waschung sollte der Waschende im Stillen „Gufrâneke yâ Rahman“ (O Barmherziger Allah, ich bitte um Deine Vergebung) denken, als Bittgebet für den Verstorbenen.
Reinigung des Intimbereichs (Taharet)
Bevor mit der rituellen Gebetswaschung begonnen wird, muss zunächst der Intimbereich des Verstorbenen gereinigt werden. Mit einem Tuch oder Waschhandschuh werden die Avret-Flächen des Toten unter der Bedeckung gesäubert. Der Verstorbene wird dazu leicht in eine sitzende Position gebracht und der Unterbauch wird sanft massiert, damit verbliebene Luft oder Stuhlgang aus dem Körper entweichen können. Dies verhindert, dass die Leichentücher später durch körperliche Ausscheidungen verunreinigt werden.
Die rituelle Gebetswaschung (Wudu)
Erst nach dieser Taharet-Reinigung wird die rituelle Gebetswaschung für den Verstorbenen durchgeführt, sofern dieser alt genug war, um zu beten. Die Gebetswaschung folgt den üblichen Regeln mit der wichtigen Ausnahme, dass Mund und Nase nicht mit Wasser gefüllt werden.
Dabei werden Hände, Mund, Nase und Gesicht gereinigt – wobei für Mund und Nase das Wischen mit feuchter Baumwolle genügt. Anschließend werden der rechte und linke Unterarm bis zum Ellenbogen sowie der rechte und linke Fuß gewaschen.
Dabei wird stets mit der rechten Körperseite begonnen – dies ist eine durchgängige Sunna bei der Totenwaschung. Die Waschungen werden empfohlenerweise dreimal durchgeführt, einmal genügt jedoch zur Erfüllung der Pflicht.
Die Ganzkörperwaschung (Ghusl)
Nach der Gebetswaschung beginnt die eigentliche Totenwaschung, bei der Kopf und Hals, rechte Körperhälfte und linke Körperhälfte in dieser Reihenfolge gewaschen werden. Der Körper wird zunächst komplett benetzt und dann gründlich mit Seife gewaschen.
Der Verstorbene wird nach links gedreht, um die rechte Seite zu waschen, dann nach rechts gedreht, um die linke Seite zu waschen. Es ist Sunna, jeden Bereich dreimal zu waschen. Schwer erreichbare Bereiche wie Achseln oder Hautfalten werden durch sanfte Massage gereinigt.
Massage des Bauches
Der Verstorbene wird erneut in eine sitzende Position gebracht, an den Waschenden angelehnt, und der Bauch wird ein weiteres Mal sanft massiert. Sollten dabei Körperflüssigkeiten oder Ausscheidungen austreten, werden nur diese Bereiche nachgewaschen. Eine erneute vollständige Gebetswaschung ist nach hanafitischer Auffassung nicht erforderlich.
Die schafiitische Rechtsschule sieht hier allerdings vor, bei Austritt von Unreinheiten die Gebetswaschung zu wiederholen – dies ist ein praxisrelevanter Unterschied zwischen den beiden Madhahib.
Abschluss und Parfümierung
Der Verstorbene kann einparfümiert werden, wobei Kampfer (Kafur) auf die Gebetsflächen verteilt wird – also auf Stirn, Nase, Hände, Knie und Füße, jene Körperteile, die bei der Niederwerfung (Sujud) im Gebet den Boden berühren.
Verbotene Handlungen während der Totenwaschung
Während der gesamten Totenwaschung gelten strikte Verbote zum Schutz der Würde des Verstorbenen. Die Haare dürfen nicht geschnitten werden, ebenso wenig die Nägel. Die Blicke auf die Intimzonen (Mahrem-Bereiche) sind untersagt, und diese Bereiche dürfen ausschließlich mit Handschuhen oder durch ein Tuch berührt werden – niemals mit der bloßen Hand.
Besondere Fälle: Stark beschädigte Körper
In Ausnahmesituationen, wenn der Körper des Verstorbenen beispielsweise zu stark aufgebläht ist oder bereits zu zerfallen beginnt, wird ein vereinfachtes Verfahren angewendet. In diesen Fällen:
- Wird die Niya (Absicht) gemacht, den Toten zu waschen
- Wird die Basmala gesprochen
- Wird Wasser über den Verstorbenen fließen gelassen
- Wird „Gufrâneke yâ Rahmân“ gesagt (hier ausgesprochen, nicht nur gedacht)
Bei solchen stark beschädigten Körpern werden weder die vollständige Gebetswaschung noch die dreimalige Ganzkörperwaschung durchgeführt. Das symbolische Fließenlassen von Wasser über den Körper genügt in diesen Notfällen, um die rituelle Pflicht zu erfüllen.
Unterschiede zwischen den Rechtsschulen bei unvollständigen Körpern
Ein bedeutender praktischer Unterschied zwischen den Rechtsschulen besteht bei unvollständigen oder fragmentierten Körpern:
Schafiitische Rechtsschule: Wenn nur vereinzelte Körperteile oder sogar nur Knochen vorhanden sind, werden diese gewaschen und es wird ein Totengebet für sie verrichtet. Jeder identifizierbare Teil eines Muslim verdient nach dieser Auffassung die volle rituelle Behandlung.
Hanafitische Rechtsschule: Die Totenwaschung und das Totengebet werden nur dann durchgeführt, wenn mehr als die Hälfte des Körpers vorhanden ist. Ist weniger als die Hälfte des Körpers vorhanden, entfällt diese Pflicht.
Diese methodologischen Unterschiede reflektieren die verschiedenen Herangehensweisen der Rechtsschulen an die Ableitung von Regelungen aus den Primärquellen. Alle vier sunnitischen Madhahib (Hanafi, Shafii, Maliki, Hanbali) sind innerhalb von Ahl al-Sunnah wa’l-Jamā’ah anerkannt und teilen dieselben Glaubensgrundlagen. Die Unterschiede betreffen ausschließlich die Methodik der Rechtsableitung (Usul al-Fiqh), nicht die grundlegenden religiösen Überzeugungen.
Die spirituelle Dimension der Totenwaschung
Der Geist der verstorbenen Person ist anwesend und nimmt alles wahr. Deshalb muss der Verstorbene wie ein lebender Mensch mit Würde und Respekt behandelt werden. Es sollten nur die engsten Verwandten und die direkt an der Waschung Beteiligten den Waschraum betreten.
Die Totenwaschung ist mehr als eine technische Prozedur – sie ist ein Gottesdienst (Ibada) und ein letzter Liebesdienst an dem Verstorbenen. Zahlreiche Überlieferungen über den Propheten (Friede sei mit ihm) versprechen dem Waschenden großen Lohn und Vergebung der Sünden.



