
Die zeitliche Dimension des rituellen Gebets gehört zu den am häufigsten unterschätzten Aspekten islamischer Praxis. Während die meisten Muslime heute auf Apps und digitale Kalender vertrauen, um ihre Gebetszeiten zu ermitteln, gerät das tiefere Verständnis der astronomischen und rechtlichen Grundlagen zunehmend in Vergessenheit. Unser Vortrag am 3. September 2023 widmete sich der Pflicht des Waqt – der Kenntnis und Einhaltung der Gebetszeiten nach hanafitischer Rechtsschule.
Die grundlegende Struktur der täglichen Gebete
Die fünf Pflichtgebete (Farz) strukturieren den muslimischen Tag: Fajr (Morgengebet) mit insgesamt vier Rakat (zwei Sunnah, zwei Farz), Zuhr (Mittagsgebet) mit zehn Rakat (vier Sunnah, vier Farz, zwei Sunnah), Asr (Nachmittagsgebet) mit Acht Rakat (vier Sunnah, vier Farz), Maghrib (Abendgebet) mit fünf Rakat (drei Farz, zwei Sunnah) und Isha (Nachtgebet) mit dreizehn Rakat (vier Sunnah, vier Farz, zwei Sunnah, drei Witr).
Das Witr-Gebet nimmt dabei eine besondere Stellung ein: Es gilt nach hanafitischer Auffassung als Wajib – eine Kategorie zwischen Farz und Sunnah, die nur in der Hanafi-Rechtsschule existiert und deren Gewichtung sich dem Farz annähert. Zusätzlich gibt es das Jumu’ah-Gebet (Freitagsgebet), das innerhalb des Zuhr-Zeitfensters verrichtet wird, sowie die Bayram-Gebete zu den beiden islamischen Festtagen.
Die Kenntnis dieser Gebetszeiten ist Farz – religiöse Pflicht. Diese Verpflichtung besteht unabhängig von der Verfügbarkeit technischer Hilfsmittel und basiert auf der Fähigkeit, natürliche Phänomene am Himmel zu beobachten und zu interpretieren.
Die präzisen Zeitfenster nach Hanafi-Fiqh
Fajr: Die beiden Morgendämmerungen
Das Morgengebet beginnt mit Fajr as-Sadiq (der wahren Morgendämmerung) und endet mit dem Sonnenaufgang. Dabei ist eine wichtige Unterscheidung zu treffen: Vor dem wahren Fajr erscheint Fajr al-Kadhib (die „lügende Morgendämmerung“) – ein viereckiger Lichtstrahl, der sowohl von Osten als auch von Westen sichtbar ist, kurz aufleuchtet und dann wieder verschwindet. Erst die nachfolgende Dunkelheit weicht dann dem wahren Fajr, der sich horizontal von Osten ausbreitet.
Diese Unterscheidung hat praktische Konsequenzen: Das Fasten beginnt erst mit Fajr as-Sadiq, nicht mit Fajr al-Kadhib. Für das Gebet selbst gilt als Mustahab (empfohlen), es nicht unmittelbar bei Eintritt der Zeit zu verrichten, sondern zu warten, bis es hell genug geworden ist, dass ein Bogenschütze sehen könnte, wo sein abgeschossener Pfeil landet. Eine Ausnahme bildet lediglich der erste Tag von Eid al-Adha (Kurban Bayram), wenn Pilger in Mekka früh zum Muzdalifah-Akt aufbrechen müssen – hier ist ein früheres Gebet vorzuziehen.
Zuhr: Der sinkende Schatten
Das Mittagsgebet beginnt, sobald die Sonne ihren Zenit überschritten hat und sich dem Untergang zuneigt. Das Ende dieser Gebetszeit ist unter den hanafitischen Gelehrten umstritten: Nach Imam A’zam endet Zuhr, wenn der Schatten eines senkrechten Gegenstands doppelt so lang ist wie das Objekt selbst. Imam Abu Yusuf und Imam Muhammad hingegen setzen das Ende bereits an, wenn der Schatten genauso lang ist wie das Objekt.
Ömer Nasuhi Bilmen empfiehlt, dem Urteil Imam A’zams zu folgen, aber sicherheitshalber das Zuhr-Gebet zu verrichten, bevor die engere Zeitgrenze nach Abu Yusuf und Muhammad erreicht ist. Das Jumu’ah-Gebet teilt dasselbe Zeitfenster wie Zuhr.
Asr: Sommerliche Verzögerung
Das Asr-Gebet beginnt dort, wo Zuhr endet – je nach befolgter Meinung beim einfachen oder doppelten Schatten. Als Mustahab gilt, im Sommer etwas zu warten, bis die Hitze nachlässt, während man im Winter das Gebet direkt zu Beginn der Zeit verrichten sollte. Mit dem Gebet zu warten, bis die Sonne ihre Farbe wechselt – gemeint ist jener Zeitpunkt, an dem der direkte Blick in die Sonne nicht mehr blendet – gilt ebenfalls als Makruh (verpönt).
Maghrib: Die dreifache Dämmerung
Das Abendgebet beginnt unmittelbar nach Sonnenuntergang, sobald die Sonne vollständig hinter dem Horizont verschwunden ist. Das Ende der Maghrib-Zeit ist theologisch besonders interessant: Nach der Mehrheitsmeinung aller Imame endet Maghrib, wenn das weiße Licht am Horizont verschwindet, das nach der Abenddämmerung (Shafaq) sichtbar bleibt.
Eine alternative Aussage Imam A’zams definiert ein späteres Ende, doch die Mehrheitsmeinung hat sich durchgesetzt. Maghrib sollte nicht verzögert werden – es gilt als empfohlen, dieses Gebet zeitnah zu verrichten, nicht bis zum Ende der Dämmerung zu warten.
Isha: Das Drittel der Nacht
Das Nachtgebet beginnt mit dem Ende von Maghrib und erstreckt sich bis Fajr as-Sadiq. Die Empfehlungen zur optimalen Zeit sind differenziert: Als Mustahab gilt, ein Drittel der Nacht zu warten, bevor man Isha verrichtet. Bis zur Hälfte der Nacht zu warten ist Mubah (neutral), während ein Hinauszögern bis kurz vor Fajr als Makruh gilt – außer man hat eine legitime Entschuldigung.
Um sicherzugehen, dass die Isha-Zeit tatsächlich eingetreten ist, empfiehlt sich, mit dem Gebet zu warten, bis das Licht am Horizont vollständig erloschen ist. Bei bewölktem Wetter gelten besondere Vorsichtsregeln: Morgen-, Mittags- und Abendgebet sollten etwas später, Nachmittags- und Nachtgebet etwas früher verrichtet werden.
Witr, Tarawih und die Festgebete
Das Witr-Gebet teilt nach Imam A’zam dasselbe Zeitfenster wie Isha, wird aber erst nach dem Isha-Gebet verrichtet. Imam Abu Yusuf und Imam Muhammad sehen dies anders: Für sie beginnt die Witr-Zeit erst, nachdem man tatsächlich Isha gebetet hat. Diese Unterscheidung hat praktische Konsequenzen, etwa wenn jemand bemerkt, dass seine Kleidung beim Isha-Gebet unrein war – nach Imam A’zam muss nur Isha wiederholt werden, nach den anderen beiden Imamen auch Witr.
Wer sicher ist, vor Fajr aufzuwachen, sollte Witr vorzugsweise in dieser späten Nachtzeit verrichten. Wer diese Sicherheit nicht hat, betet Witr direkt nach Isha.
Das Tarawih-Gebet im Ramadan (zwanzig Rakat) beginnt nach Isha und kann bis Fajr verrichtet werden. Es kann vor oder nach Witr gebetet werden, aber niemals vor Isha. Wer bemerkt, Tarawih gebetet zu haben, ohne zuvor Isha verrichtet zu haben, muss erst Isha beten und dann Tarawih nachholen.
Die Bayram-Gebete haben ein eng begrenztes Zeitfenster: Sie beginnen nach der Karahat-Zeit (jener Zeit nach Sonnenaufgang, in der freiwillige Gebete verboten sind) und enden, wenn die Sonne ihren Zenit erreicht. Beim Ramadan-Bayram kann das Gebet bei legitimer Entschuldigung am zweiten Tag nachgeholt werden, beim Kurban-Bayram hat man drei Tage Zeit – wobei eine Verzögerung ohne Entschuldigung als Makruh gilt.
Qada: Das nachgeholte Gebet
Ein vor seiner Zeit verrichtetes Pflichtgebet muss wiederholt werden – es zählt nicht. Ein nach seiner Zeit verrichtetes Pflichtgebet gilt als Qada (Nachholen) und wird niemals dieselbe spirituelle Qualität erreichen wie das rechtzeitig verrichtete Gebet. Diese Unterscheidung unterstreicht die zentrale Bedeutung der korrekten zeitlichen Verortung.
Sunnah-Gebete, Jumu’ah und Bayram-Gebete können nicht als Qada nachgeholt werden – sie existieren ausschließlich in ihrem spezifischen Zeitfenster. Diese Regelung betont ihren besonderen Status und ihre Zeitgebundenheit.
Extremsituationen: Wenn Gebetszeiten fehlen
In nördlichen Breiten stellt sich im Hochsommer ein praktisches Problem: Die Isha-Zeit tritt möglicherweise nicht ein, weil das Licht am Horizont niemals vollständig verschwindet. Einige Gelehrte argumentieren analog zur fehlenden rituellen Waschung eines fehlenden Körperteils – wenn die Zeit nicht existiert, entfällt die Pflicht.
Die Mehrheit der Gelehrten jedoch, einschließlich Imam Shafi’i, vertritt eine andere Position: Muslime müssen sich in solchen Fällen an den Gebetszeiten des nächstgelegenen Ortes orientieren, an dem alle fünf Gebetszeiten eintreten. Die Verpflichtung zum fünfmaligen täglichen Gebet ist eine göttliche Festsetzung und folgt aufeinander „wie ein Zug“ – sie kann nicht durch geografische Besonderheiten außer Kraft gesetzt werden.
Diese Ansicht hat sich auch für das Fasten durchgesetzt, wo der Konsens besteht, dass man sich an den Zeiten des nächsten „normalen“ Ortes orientiert.
Die spirituelle Dimension der Zeit
Die präzise Einhaltung der Gebetszeiten ist mehr als eine formale Anforderung. Sie strukturiert den Tag nach göttlichen Rhythmen statt nach menschlichen Prioritäten. Sie zwingt zur Unterbrechung weltlicher Beschäftigungen und schafft regelmäßige Momente der Hinwendung zu Allah.
Das Wissen um diese Zeiten – auch unabhängig von Apps und Kalendern – verbindet uns mit der natürlichen Schöpfung: dem Lauf der Sonne, der Dämmerung, der Länge von Schatten. Es lehrt uns, die Zeit nicht nur zu messen, sondern zu lesen.



