
Diese Vortragszusammenfassung behandelt die Biographie des großen islamischen Gelehrten Imam Ghazali und die fundamentale Bedeutung, sich regelmäßig an den Tod zu erinnern, basierend auf unserem wöchentlichen Vortrag vom 3. Dezember 2023.
Wer ist Imam Ghazali?
Imam Abu Hamid Muhammad al-Ghazali wurde 1058 in Khorasan geboren und zählt zu den bedeutendsten Gelehrten der islamischen Geschichte. Er gehört zu den größten religiösen Denkern des Islams und war Großlehrer an der renommierten Nizamiyya-Madrasa in Bagdad, einer der höchsten Bildungseinrichtungen im Seldschukenreich.
Der Prophet Muhammad (Friede sei mit ihm) prophezeite, dass alle 100 Jahre ein Gelehrter kommen würde, der den Islam erneuert und wieder zum Leben erweckt. Viele islamische Gelehrte betrachten Imam Ghazali als denjenigen, der diese Rolle in seinem Jahrhundert erfüllte. Sein wissenschaftliches Erbe ist immens: Quellen berichten, dass er 457 Bücher verfasst hat, von denen 75 bis in die heutige Zeit überliefert wurden. Sein Hauptwerk „Ihya Ulum al-Din“ (Die Wiederbelebung der religiösen Wissenschaften) gilt als eines der einflussreichsten Werke nach dem Koran und den Hadithen und wird an zahlreichen renommierten Universitäten weltweit studiert.
Das Buch über Tod und Jenseits
Zum Thema Tod hat Imam Ghazali das Werk „Ölüm ve Ötesi“ (Tod und was danach kommt) verfasst, das 40. Buch seines Hauptwerks „Ihya Ulum al-Din“, in dem er anhand von Koran, Sunna und authentischen Berichten alles Wichtige über die Vorbereitung auf den Tod, das Sterben, die Auferstehung und das Leben im Jenseits darlegt. Wenn man Gelehrte fragt, welches Buch sie zum Thema Tod empfehlen würden, nennen viele gerade dieses Werk von Imam Ghazali.
Die Bedeutung, sich an den Tod zu erinnern
Das erste Kapitel behandelt die fundamentale Bedeutung der Todeserinnerung. Imam Ghazali beginnt mit einer klaren Aussage: Wer die Geheimnisse Allahs erfahren möchte, der soll wissen – alles endet mit dem Tod. Die letzte Haltestelle eines jeden Menschen ist das Grab.
Die Engel Munkar und Nakir
Nach der islamischen Überlieferung kommen zwei Engel namens Munkar und Nakir zum Verstorbenen in sein Grab. Ihre Namen bedeuten „das Negative“ und „das Verwerfliche“ und ihre Aufgabe besteht darin, den Toten zu befragen.
Die Fragen, die sie stellen, sind scheinbar einfach: „Wer ist dein Gott?“ – „In welche Richtung betest du?“ – „Wer ist dein Prophet?“ Doch die Tiefe dieser Fragen wird oft missverstanden. Manche Menschen fragten die Propheten verwundert: Das sind doch einfache Fragen, die kann jeder beantworten!
Doch die Antwort offenbart eine erschütternde Wahrheit: Allah wird die Zunge sagen lassen, was wirklich der Gott dieser Person war. In welche Richtung sie wirklich gebetet hat. Wer wirklich ihr Prophet war. Das bedeutet: Diese Fragen zielen auf die tiefste Wahrheit des gelebten Lebens ab. Wer oder was hat deine wichtigsten Entscheidungen wirklich bestimmt? War es wahrhaftig Allah – oder war dein Gott vielleicht das Geld? War dein Prophet vielleicht der Fernseher oder die sozialen Medien? In welche Richtung hast du dich wirklich ausgerichtet?
Das Leben im Grab wird auch Barzakh-Leben genannt, was „Hindernis“ zwischen der Welt und dem Jenseits bedeutet. Der Koran verkündet: „Vor ihnen wird ein trennendes Hindernis (Barzakh) sein bis zu dem Tag, da sie auferweckt werden.“ (Sure Al-Mu’minun, 23:100)
Ein eindrucksvolles Beispiel verdeutlicht, wie die einfachsten Dinge vergessen werden können: Während des Putschversuchs in der Türkei 2016 brach ein Düsenjet direkt über Istanbul die Schallbarriere. Menschen, die dieses explodierende Geräusch erlebten, wussten im wahrsten Sinne des Wortes nicht mehr, wo vorne, hinten, links oder rechts ist. In extremen Momenten ist es möglich, selbst die einfachsten Dinge zu vergessen. Umso wichtiger ist es, sein Herz tief mit dem Glauben zu verankern.
Das ewige Leben danach
Nach dem Tod und dem Grab folgt das eigentliche, ewige Leben: Himmel oder Hölle. Diese Befragung im Grab wird auch als „kleines Gericht“ bezeichnet. Wer die Prüfung besteht, dem werden die Engel seinen Platz im Paradies zeigen; wer sie nicht besteht, wird von den Engeln der Hölle überantwortet.
Imam Ghazali erklärt: Wer als guter Mensch stirbt, dessen Grab wird als „Garten des Paradieses“ (Jannat Batschesse) bezeichnet. Wenn man ins Paradies kommt, wird einem zuerst die Hölle gezeigt – man bekommt Angst. Dann wird gesagt: „Dort wärst du hingekommen, wenn du kein guter Mensch gewesen wärst.“ Danach wird das Paradies gezeigt. Das Gegenteil gilt für jene, die als schlechte Menschen sterben: Ihnen wird zuerst das Paradies gezeigt, dann ihr Platz in der Hölle. Deswegen spricht man oft vom „Garten des Paradieses“ im Grab – denn dort wird einem bereits der eigene Platz im Paradies gezeigt, und man wünscht sich nur, dass das Leben auf Erden endet, damit man endlich zu diesem Platz gelangen kann.
Die Lehren des Propheten
Der Prophet Muhammad (Friede sei mit ihm) sagte: „Man kann denjenigen nur als schlau bezeichnen, der sein Nafs (das niedere Selbst) richtig unterdrückt und es Befehle ausführen lässt, die von Allah kommen – und derjenige, der sich auf das vorbereitet, was nach dem Tod auf ihn zukommt.“
Wenn jemand oft an den Tod denkt, hat er keine andere Wahl, als sich auf den Tod vorzubereiten. Diese Person wird ihr Leben so führen, dass ihr Grab ein Garten des Paradieses wird. Der Prophet wandte sich auch an jene, die sich vollständig von den weltlichen Schönheiten erfassen lassen: „Erwähnt die Sache, die euch die Schönheiten der Erde vergessen lässt, die den Geschmack von euren Mündern entfernen lässt, die eure Gelüste vertreiben lässt.“
Die Menschen fragten: „Welche Zeit ist diese Zeit?“ Der Prophet antwortete: „Das ist die Zeit des Todes. Denkt an den Tod und kommt zu euch.“
In einem anderen Hadith sagte der Prophet: „Wenn die Tiere über den Tod wüssten, wie die Menschen über den Tod wissen, dann würdet ihr niemals ein gemästetes Tier sehen.“ Das heißt: Sie hätten gar keinen Appetit mehr für das Weltliche. Doch wir Menschen wissen um den Tod – und dennoch essen und trinken wir uns voll. Wir wissen, was auf uns zukommt, und dennoch handeln wir oft so, als würden wir ewig leben.
Allah beschreibt uns Menschen im Koran als unwissende und undankbare Wesen. Warum? Weil Allah allen Geschöpfen die Verantwortung anbot, die der Mensch auf Erden trägt – und alle sind davongelaufen. Die Tiere wollten diese Bürde nicht, die Pflanzen nicht, die gesamte Natur nicht. Nur der Mensch sagte: „Ich mache es.“ Und nun sind wir hier, mit dieser gewaltigen Verantwortung.
Die Stufe des Märtyrers erreichen
Jemand fragte den Propheten (Friede sei mit ihm), ob man die Stufe eines Märtyrers (Shahid) erreichen kann, ohne im Kampf zu fallen. Ein Märtyrer ist nicht nur jemand, der im Krieg stirbt. Der Prophet sagte: „Die Märtyrer sind fünf: einer, der an einer Pest stirbt, einer, der durch eine Bauchverletzung stirbt, einer, der ertrinkt, einer, der unter Steinschutt umkommt, und einer, der im Kampf auf dem Weg Allahs getötet wird.“
Selbst ein Vater, der Brot für seine Familie holen will und auf dem Heimweg von einem herabfallenden Ziegelstein getroffen wird und stirbt – auch er kann als Märtyrer gelten, wenn er im Glauben war.
Der Prophet (Friede sei mit ihm) gab eine konkrete Anleitung: „Wenn jemand am Tag 20 Mal den Tod erwähnt – damit ist gemeint, dass er an den Tod denkt und entsprechend handelt – der wird auf der Stufe eines Märtyrers bei den Engeln erwähnt werden.“
Ermahnung und Vorbereitung
Einmal ging der Prophet an einer Menschenmenge vorbei, die so laut lachte, dass ihr Gelächter von weit her hörbar war. Der Prophet sagte: „Mischt diese Versammlung auf mit etwas, was die Gelüste vertreibt.“ Sie fragten: „Was ist das?“ Er antwortete: „Das ist der Tod.“
Dies bedeutet nicht, dass wir nicht glücklich sein oder lachen sollen. Der Prophet selbst war glücklich und hatte Humor – er machte Witze mit seiner Familie, lachte mit seinen Gefährten. Aber Spaß und Lebensfreude dürfen uns nicht davon abhalten, uns dessen bewusst zu sein, was auf der anderen Seite wartet. Wir müssen im Einklang mit allem, was wir wissen, leben.
Der Prophet sagte auch: „Nur der Tod reicht den Menschen als Ermahnung (Nasihat).“ Einmal kamen Leute zum Propheten und lobten eine Person überschwänglich. Der Prophet fragte: „Wie oft erinnert er euch denn an den Tod?“ Sie antworteten: „Wir haben ihn noch nie über den Tod sprechen hören.“ Darauf sagte der Prophet: „Diese Person ist nicht auf der Stufe, von der ihr ihn erwartet.“ Das bedeutet gleichzeitig: Wenn wir Unterricht machen, muss der Tod ein fester Bestandteil sein, damit wir überhaupt etwas Wertvolles lernen.
Ein letztes Zeugnis
Abu Sulaiman Darani fragte Umm Harun: „Möchtest du sterben?“ Sie antwortete: „Nein, ich möchte nicht sterben.“ Er fragte: „Warum?“ Umm Harun erklärte: „Wenn ich gegenüber einem Menschen abtrünnig werde oder ihm etwas schulde oder mich ihm gegenüber unfair verhalte, dann laufe ich weg von dieser Person. Ich will sein Gesicht nicht sehen aus Scham. Wie könnte ich mit so vielen Sünden denn vor Allah treten, wenn ich bei einem einzigen Menschen schon so viel Scham empfinde?“
Diese Worte offenbaren die Tiefe wahrhaftiger Gottesfurcht: Wenn uns bereits die Scham vor einem einzigen Menschen überwältigt, wie viel größer muss dann die Scham vor dem Allmächtigen sein?
Zusammenfassung
Imam Ghazalis Lehren über den Tod sind keine düsteren Mahnungen, sondern praktische Wegweiser für ein bewusstes Leben. Sich regelmäßig an den Tod zu erinnern bedeutet nicht, in Traurigkeit zu versinken – sondern in jeder Handlung das Bewusstsein zu bewahren, dass wir uns auf ein ewiges Leben vorbereiten. Die Engel Munkar und Nakir werden nicht nach oberflächlichen Bekenntnissen fragen, sondern nach der gelebten Wahrheit unseres Herzens. Die Frage ist nicht, ob wir die richtigen Worte kennen – sondern ob unser Leben diesen Worten entspricht.



