Salāt al-Dschanāza: Die letzte Pflicht der Gemeinschaft

📅 24. November 2025
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Stell dir vor: Ein Mensch stirbt, und niemand erscheint zu seinem Totengebet. In der islamischen Lehre trägt dann nicht nur eine Person die Verantwortung – sondern die gesamte muslimische Gemeinschaft steht in der Schuld. Das Totengebet ist keine private Angelegenheit. Es ist der Lackmustest dafür, wie ernst wir unsere Verantwortung füreinander nehmen.

Die kollektive Verantwortung: Fard Kifaya

Salāt al-Dschanāza gilt als Fard Kifaya – eine kollektive Verpflichtung. Das Prinzip ist eindeutig: Erfüllt niemand diese Pflicht, sündigt die gesamte Gemeinschaft. Erfüllt jedoch ein Teil der Muslime diese Pflicht, sind alle anderen davon befreit. Diese Regelung zeigt die Stärke des islamischen Solidaritätsprinzips: Niemand soll vergessen werden, niemand soll allein gehen müssen.

Der Prophet Muhammad (Friede sei mit ihm) unterstrich die Bedeutung dieser Pflicht mit eindrücklichen Worten. In einer Überlieferung bei Sahih Muslim heißt es: „Wer an einem Begräbnis teilnimmt, bis das Totengebet verrichtet worden ist, der wird mit einem Qirat belohnt. Und wer daran teilnimmt, bis die Beerdigung vollzogen worden ist, der wird mit zwei Qirat belohnt.“ Als jemand fragte, was zwei Qirat seien, antwortete der Prophet: „Sie entsprechen zwei riesigen Bergen.“

Eine bemerkenswerte Aussage stammt von Said Nursi: „Es gibt nichts mitleiderregenderes und komischeres Verhalten als wenn ein Teil der Muslime Totengebet verrichtet und ein anderer Teil nur zuschaut.“ Diese Worte treffen ins Mark – das Totengebet ist keine Bühnenshow, sondern eine gemeinschaftliche Pflicht, an der sich alle beteiligen sollten, die anwesend sind.

Voraussetzungen und räumliche Regelungen

Die Grundvoraussetzungen entsprechen denen jedes anderen Gebets: rituelle Reinheit durch Wudu (Gebetswaschung), saubere Kleidung und die Ausrichtung zur Qibla. Der Verstorbene wird so vor die Gemeinschaft gebracht, dass alle Richtung Mekka schauen.

Ein wichtiger Aspekt, der oft übersehen wird: Das Totengebet sollte nicht in der Moschee verrichtet werden – außer bei Notfällen wie Regen oder anderen zwingenden Gründen. Ebenso ist es nicht gern gesehen, das Gebet direkt am Friedhof zu verrichten. Diese Regelungen haben praktische und spirituelle Gründe: Das Gebet soll in einem angemessenen Rahmen stattfinden, nicht hastig zwischen Grabstätten.

Das sogenannte Gaibi-Gebet – also das Totengebet für einen nicht anwesenden Verstorbenen – ist nach hanafitischer Rechtslehre nicht gestattet. Dies beruht auf der Interpretation, dass die einzige überlieferte Ausnahme (das Gebet des Propheten für den Negus von Abessinien) eine Besonderheit nur für ihn darstellte. Der Körper sollte physisch anwesend sein.

Zeitliche Aspekte: Eile ist geboten

Die schnelle Bestattung ist ein islamisches Prinzip. Man sollte nicht bis zum Freitagsgebet warten, nur damit die Gemeinschaft größer wird. Wenn während eines Bayram-Festes ein Verstorbener zu beerdigen ist, wird das Totengebet nach dem Bayram-Gebet, aber vor der Bayram-Predigt verrichtet.

Die verpönten Gebetszeiten (Karaha-Zeiten) gelten auch für das Totengebet: nicht bei Sonnenaufgang, beim Sonnenhöchststand (Zawaal) oder bei Sonnenuntergang. Diese Zeiten sind generell für rituelle Handlungen nicht vorgesehen.

Die Hierarchie der Vorbeter

Wer darf das Totengebet leiten? Die Rechtslehre kennt eine klare Rangordnung: Zunächst hat die Person mit dem höchsten religiösen Rang vor Ort das Recht – etwa der Freitags-Imam, gefolgt von einem respektierten Gelehrten oder dem Bezirks-Imam. Danach kommen die Erbberechtigten.

Diese Reihenfolge ist nicht willkürlich verhandelbar. Wer sein Recht an eine nicht berechtigte Person übergibt, kann das Gebet ungültig machen. In solchen Fällen muss der rechtmäßig Berechtigte das Gebet wiederholen – notfalls mit einer neuen Gemeinschaft. Ist jedoch die Übergabe rechtmäßig erfolgt, darf das Gebet nicht wiederholt werden.

Bei verstorbenen Frauen ändert sich die Reihenfolge: Zunächst der Vater, dann der Ehemann, dann die Nachbarn. Diese Regelung respektiert die besonderen familiären Bindungen.

Der praktische Ablauf: Vier Takbirat ohne Ruku und Sajda

Das Totengebet unterscheidet sich fundamental von den regulären Gebeten: Es gibt keine Verbeugung (Ruku) und keine Niederwerfung (Sajda). Das Gebet wird ausschließlich im Stehen verrichtet und besteht aus vier Takbirat.

Der Imam positioniert sich auf Höhe der Brust des Verstorbenen – bei einem Mann auf Brusthöhe, bei einer Frau eher mittig. Der Kopf des Verstorbenen sollte zur Linken des Imams zeigen – rechts ist zwar gültig, aber verpönt (makruh).

Die Gemeinschaft versammelt sich in Reihen. Frauen sollten hinter den Männern beten. Zwar ist es bei diesem Gebet nicht ungültig, wenn eine Frau neben einem Mann steht (da keine Verbeugung oder Niederwerfung erfolgt), dennoch wird die getrennte Aufstellung empfohlen. Generell gilt: Frauen können zwar eine eigene Jamaah bilden, es ist aber besser, wenn sie einzeln beten.

Ein überraschender Fakt: Die letzte Reihe ist der beste Platz beim Totengebet – im Gegensatz zu den regulären Gebeten, wo die erste Reihe am verdienstvollsten ist.

Die vier Takbirat im Detail:

Erste Takbir: Nach der Niya (Absicht, das Totengebet für den Verstorbenen zu beten und Dua für ihn zu machen) wird „Allahu Akbar“ gesagt und die Hände werden gebunden. Dann wird das Subhanaka mit der Ergänzung „wa jalla sanauk“ rezitiert. Wer das Geschlecht des Verstorbenen nicht kennt (etwa im Urlaub in einer fremden Moschee), kann in der Niya sagen: „Für denjenigen, für den der Imam betet, schließe ich mich ihm an.“

Zweite Takbir: Die Hände bleiben gebunden. Es werden die Segenswünsche für den Propheten Muhammad (Salawat/Darood) rezitiert, wie aus dem regulären Gebet bekannt.

Dritte Takbir: Die Hände bleiben gebunden. Nun folgt das eigentliche Dua für den Verstorbenen. Der Prophet lehrte: „Allahumma Ighfir Lihayyina wa mayyitina wa saghirina wa kabirina wa dhakarina wa unthana wa schahidina wa ghaibina“ (O Allah, vergib unseren Lebenden und Toten, unseren Jungen und Alten, unseren Männern und Frauen, unseren Anwesenden und Abwesenden). Wer das Dua nicht auswendig kennt, kann ein eigenes Bittgebet formulieren.

Vierte Takbir: Das Gebet wird mit dem Salam nach rechts beendet – dabei wird der Kopf gedreht und die rechte Hand gelöst. Dann folgt der Salam nach links mit der Lösung der linken Hand.

Mehrere Verstorbene gleichzeitig

Sind mehrere Verstorbene zu beerdigen, sollte man idealerweise nacheinander beten – wer zuerst gebracht wurde, wird zuerst gebetet. Wurden sie gleichzeitig gebracht, wird der gottesfürchtigere bevorzugt.

In Ausnahmefällen (etwa wenn bürokratische Verzögerungen einen Flug gefährden) können mehrere Verstorbene gleichzeitig gebetet werden. Sie werden dann vor dem Imam auf Brusthöhe hintereinander gereiht – in folgender Reihenfolge: Männer, Jungen, Frauen, Mädchen. Diese Anordnung folgt der traditionellen Priorisierung in der islamischen Rechtslehre.

Verspätung und Nachholung

Wer sich verspätet, schließt sich dem Gebet an und macht alle verpassten Takbirat nacheinander nach, ohne zwischen ihnen Duas zu sprechen. Ist der Imam bereits beim Abschluss, schließt man sich dennoch an und holt die Takbirat nach dem Salam des Imams nach.

Falls die Qibla-Richtung falsch war, muss das Gebet wiederholt werden. War jedoch die Gemeinschaft nicht im Zustand der rituellen Reinheit, aber der Imam schon, wird nicht wiederholt – denn der Imam ist der Hauptbeter, der die Pflicht für alle erfüllt hat.

Nachträgliche Gebete und besondere Fälle

Wurde jemand ohne Totengebet begraben, kann das Gebet am Grab nachgeholt werden, solange der Körper noch nicht zerfallen ist. Dies gilt selbst dann, wenn die rituelle Waschung fehlerhaft war. Der entscheidende Faktor ist der Zustand des Körpers, nicht die Zeit. Sobald jedoch Erde auf den Verstorbenen geworfen wurde, ist das Herausnehmen aus dem Grab haram.

Bei Totgeburten und Fehlgeburten gilt: Wenn ein Kind nach der Geburt gestorben ist oder wenn der Großteil des Kindes geboren wurde und dann verstarb, wird es gewaschen und gebetet. Ansonsten wird es nur gewaschen, aber nicht gebetet.

Falls nach dem Gebet ein Fehler bei der Waschung festgestellt wird, wird das Tuch geöffnet und die Waschung korrigiert. Wurde bereits gebetet, wird das Gebet erneuert – sogar wenn der Verstorbene bereits im Grab liegt, solange noch keine Erde auf ihn geworfen wurde.

Kontroverse Fälle: Wer wird gebetet, wer nicht?

Suizid-Opfer werden gebetet. Dies ist eine klare Aussage der hanafitischen Rechtslehre, die den Selbstmörder nicht aus der Gemeinschaft ausschließt. Die Person bleibt hat Anspruch auf das Totengebet.

Vorsätzliche Vater- oder Muttermörder werden hingegen nicht gebetet. Diese extreme Sünde führt zum Verlust dieses Rechts.

Bei einer nicht-muslimischen Frau, die einen muslimischen Ehemann hat und verstirbt, gehen die Meinungen auseinander. Es gibt keine einheitliche Regelung in der hanafitischen Rechtslehre zu diesem Fall.

Katastrophen mit unklarem Status

Bei Massenkatastrophen, wo unklar ist, wer Muslim war und wer nicht, gibt es folgende Regelung: Man sucht nach Zeichen des Muslim-Seins. Sind die Muslime in der Mehrheit, werden alle nach muslimischem Ritus gewaschen und beerdigt, und die Niya wird auf Muslime gemacht. Sind Muslime in der Unterzahl, werden alle gewaschen, aber kein Gebet verrichtet. Die Meinungen der Gelehrten gehen hier jedoch auseinander.

Das Tragen der Bahre: Etikette und Hasanat

Einen Verstorbenen bis zum Grab zu begleiten, bringt Hasanat (gute Taten). Besonders verdienstvoll ist es, wenn es sich um Familie, Nachbarn oder einen guten Menschen handelt – mehr als freiwillige Gebete.

Die Etikette des Tragens ist klar geregelt: Maximal vier Personen tragen an den vier Ecken der Bahre. Sie wechseln sich ab und gehen jeweils etwa zehn Schritte, bevor sie wechseln können. Die Bahre auf den Schultern zu tragen ist die beste Methode – nicht wie ein Möbelstück zu transportieren. Bei Kindern kann die Bahre auf den Händen getragen werden.

Das würdevolle Verhalten

Wer der Bahre folgt, sollte hinter ihr gehen – nicht davor oder daneben. Die Haltung sollte von Stille und Nachdenklichkeit geprägt sein. Über den Tod nachzudenken, ist der Zweck dieser stillen Begleitung.

Reden und Lachen sind unpassend. Besonders problematisch: lautes Dhikr oder Koranrezitation ist tahrimen makruh (stark verpönt). Man kann Tränen vergießen – das ist menschlich und erlaubt. Aber lautes Weinen, Kleiderzerreißen, sich ins Gesicht schlagen, Haare ausreißen oder auf die Knie hauen ist haram.

Wer die Bahre begleitet, sollte auch beim Gebet dabei sein. Muss man vorher gehen, sollte man Erlaubnis vom „Besitzer“ der Janaza (dem nächsten Verwandten) nehmen.

Frauen und das Totengebet

Frauen sollen dem Trauerzug nicht folgen – dies ist tahrimen makruh (stark verpönt). Diese Regelung hat historische und praktische Gründe und zielt darauf ab, die Würde der Bestattung zu wahren und emotionale Überwältigung zu vermeiden. Frauen können jedoch selbstverständlich am Totengebet selbst teilnehmen, wenn es vor der Prozession zum Friedhof stattfindet.

Symbolik am Grab: Tücher oder Schrift?

Manche Menschen hoffen auf Allahs Gnade, wenn sie islamische Tücher beim Begraben verwenden. Die Gelehrten sehen dies jedoch kritisch: Diese Tücher werden mit Füßen getreten, mit Blut und Teilen der Leiche verschmiert. Besser ist es, mit dem Finger auf die Stirn des Verstorbenen die Basmala zu schreiben und auf die Brust den Tauhid. Diese unsichtbare, spirituelle Markierung ist würdevoller als materielle Symbole, die der Vergänglichkeit preisgegeben werden.

Die spirituelle Essenz

Das Totengebet ist mehr als eine rituelle Pflicht. Es ist ein Moment kollektiver Demut, in dem die Gemeinschaft für einen Verstorbenen eintritt und gleichzeitig an die eigene Sterblichkeit erinnert wird. Es ist eine Fürbitte, in der um Vergebung, Barmherzigkeit und einen ehrenvollen Platz im Jenseits gebetet wird.

Die detaillierten Regelungen – von der Hierarchie der Vorbeter über die korrekte Positionierung bis hin zum würdevollen Verhalten beim Tragen der Bahre – sind Ausdruck einer tief verwurzelten Ethik des Respekts. Sie zeigen, dass der Islam dem Menschen bis zum letzten Atemzug und darüber hinaus Würde zuspricht.

Die Teilnahme am Totengebet ist keine Last, sondern ein Privileg. Es ist die letzte Gelegenheit, einem Mitglied der Gemeinschaft einen Dienst zu erweisen – einen Dienst, den der Verstorbene nicht mehr zurückzahlen kann, aber für den Allah großzügig belohnt.

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