Sich von großen Erwartungen trennen

📅 19. Februar 2024
👥 VAFA Team
🏛️ Vorträge
⏱️ 6 Min. Lesezeit

Diese Vortragszusammenfassung behandelt die spirituelle Heilung von einem modernen Leiden: große Erwartungen an das diesseitige Leben und deren Auswirkungen auf unseren Glauben, basierend auf unserem wöchentlichen Vortrag vom 18. Februar 2024.

Das Problem der überzogenen Erwartungen

Imam Abu Hamid al-Ghazali (1055-1111), einer der bedeutendsten religiösen Denker des Islams, widmet sich in seinem Hauptwerk „Ihya Ulum al-Din“ intensiv der Frage, wie Menschen sich von überzogenen Erwartungen an das diesseitige Leben befreien können. Seine Lösung ist grundlegend: Die Trennung von den Dingen, die diese großen Erwartungen überhaupt erst wecken.

Wenn der Mensch versteht, wie das diesseitige Leben tatsächlich beschaffen ist, erkennt er, dass die Genüsse dieser Welt nur von kurzer Dauer sind. Diese Erkenntnis führt zu einer bewussten Distanzierung – nicht aus Lebensfeindlichkeit, sondern aus der Einsicht, dass wir uns spätestens durch den Tod ohnehin von allen weltlichen Genüssen trennen müssen. Warum also das Herz daran binden?

Imam Ghazali verwendet ein eindrucksvolles Gleichnis: Wer das unendliche Leben nach dem Tod für die kurze Phase des Erdenlebens aufgibt, ist wie jemand, der echtes Geld für einen kurzen Traum ausgibt. Denn im Kern ist alles Weltliche Illusion. Der Prophet Muhammad (Friede sei mit ihm) sagte: „Die Menschen schlafen, und wenn sie sterben, werden sie aufwachen.“

Die Notwendigkeit reiner Gedanken

Diese Aussage mahnt uns zur Wachsamkeit: Niemand weiß, wann der Tod kommt. Deshalb müssen wir uns stets in einem Zustand reiner Gedanken halten. Mit „rein“ sind nicht nur positive Gedanken gemeint, sondern insbesondere solche, die im islamischen Sinne nützlich sind. Eines der größten Probleme der Menschheit – damals wie heute – sind negative Gedanken: Schlechtes von anderen zu erwarten, schlecht über andere zu denken, vorschnell zu urteilen.

Die islamische Lehre gibt uns hier einen wichtigen Grundsatz: Hasse nicht die Person, sondern die Tat, die diese Person begeht. Diese Unterscheidung mag simpel klingen, ist aber in der Praxis außerordentlich schwierig. Wenn eine Person eine verwerfliche Tat begeht, neigen wir dazu, die Tat mit der Person zu verschmelzen. Doch das Problem ist die Handlung – nicht der Mensch dahinter, der zur Umkehr fähig ist.

Verschiedene Stufen der Erwartungen

Imam Ghazali unterscheidet verschiedene Stufen großer Erwartungen: Manche Menschen wünschen sich, für immer zu leben – wie Allah im Koran in Sure Al-Baqara, Vers 96 sagt: „Manche von euch wünschen sich tausend Jahre zu leben.“ Andere wiederum nehmen sich nichts vor für mehr als ein Jahr. Wieder andere planen nicht einmal über einen einzigen Tag hinaus.

Diese letzte Gruppe scheint zunächst extrem – doch Imam Ghazali zeigt, dass gerade hierin eine spirituelle Heilung liegt. Menschen, die täglich mit dem Tod konfrontiert werden, wie beispielsweise in Kriegsgebieten, leben notgedrungen mit dieser Perspektive. Doch auch für uns sollte diese Haltung nicht fremd sein.

Die höchste Stufe des Glaubens beschreibt Muaz bin Jebel, ein Gefährte des Propheten, mit den Worten: „Ich habe noch nie einen Schritt gemacht und schon über den zweiten nachgedacht.“ Das bedeutet: Wahrhafter Glaube bedeutet, stets mit der Möglichkeit zu rechnen, dass der Tod uns nach der nächsten Tat ereilen könnte.

Die Lehre Jesu über die Versorgung

Imam Ghazali zitiert auch Jesus (Friede sei mit ihm), der sagte: „Sei nicht erwartungsvoll wegen deiner Versorgung (Rizq) für morgen. Wenn du morgen lebst, wirst du auch deine Versorgung morgen bekommen. Und wenn du nicht lebst, warum machst du dir Sorgen um die Versorgung von anderen?“

Diese Worte enthalten zwei fundamentale Lehren: Erstens wissen wir nicht, wie lange wir leben werden. Zweitens offenbaren sie die Sinnlosigkeit übermäßiger Sorge um weltliche Dinge. Ein Beispiel verdeutlicht dies: Ein Mensch verstirbt, hinterlässt ein Haus voller Erinnerungen – Fotoalben, Reiseberichte, persönliche Schätze. Die Erben verkaufen alles, die Erinnerungen landen beim Nächsten. Für die Hinterbliebenen: wertlos. Der Verstorbene nimmt nichts mit. Wofür kämpfen wir also unser Leben lang?

Das Hadith der fünf Dinge

Der Prophet Muhammad (Friede sei mit ihm) mahnte uns: „Es gibt fünf Dinge, die ihr wertschätzen solltet, bevor sie euch von anderen fünf Dingen wieder genommen werden: Eure Jugend, bevor ihr ein hohes Alter erreicht; eure Gesundheit, bevor euch Krankheit ereilt; euren Reichtum, bevor euch Armut einholt; eure Freizeit, bevor euch Beschäftigung einholt; und das Leben, bevor euch der Tod ereilt.“

Dieses Hadith fasst die Essenz des bewussten Lebens zusammen. Junge Menschen erleben ihre Jugend als Normalzustand und denken, alle Zeit der Welt zu haben – „morgen, morgen, morgen“. Doch das Morgen schleicht sich heran: ein graues Haar, ein Schmerz im Rücken. Gesundheit nehmen wir als selbstverständlich hin, bis eine Krankheit uns daran erinnert, wie fragil der Mensch ist. An einem Tag besitzen wir all unsere Kraft, am nächsten könnten wir für die einfachsten Dinge auf andere angewiesen sein.

Der Prophet sagte auch: „Zwei Sachen täuschen die Menschen: Gesundheit und Freizeit.“ Wir glauben, sie würden ewig währen, und verschwenden sie mit nutzlosen Dingen.

Was vom Leben zu erwarten ist

Der Prophet Muhammad (Friede sei mit ihm) skizzierte nüchtern, was wir vom diesseitigen Leben erwarten können: Entweder Reichtum, der uns aus der Bahn wirft; oder Armut, die uns vergessen lässt; oder Krankheit, die uns vernichtet; oder das Altern; oder ein schneller Tod; oder die Begegnung mit dem Dajjal (dem falschen Messias); oder eine schnell nahende Qiyamah (der Jüngste Tag).

Diese Aufzählung ist nicht pessimistisch, sondern realistisch. Sie soll uns nicht entmutigen, sondern zur Besinnung bringen: Das Leben ist kurz, vergänglich und voller Prüfungen. Die einzig sinnvolle Reaktion ist, jede Tat so zu vollbringen, als könnte sie die letzte sein.

Praktische Konsequenzen für das Leben

Der Prophet Muhammad (Friede sei mit ihm) selbst lebte nach diesem Prinzip. Wenn er um Wasser für die rituelle Waschung bat, verrichtete er das Gebet sofort nach dessen Eintreffen – denn er wusste nicht, wie lange er noch leben würde. Diese Einstellung sollte unser Leben prägen: Das Nächste, was wir tun, sollte stets darauf ausgerichtet sein, das Wohlgefallen Allahs zu erlangen.

Imam Ghazali sagt: Jeder denkt von sich, keine großen Erwartungen zu haben. Doch die Wahrheit zeigt sich darin, wie schnell diese Person versucht, ihre Ziele zu erreichen – und wie sehr sie dabei beachtet, dass sie jederzeit sterben könnte.

Dies bedeutet nicht, dass wir aufhören sollten zu planen oder zu arbeiten. Es bedeutet vielmehr, dass wir aktiv und bewusst leben müssen. Es reicht nicht, nur Wissen zu sammeln – zur Moschee zu kommen, Notizen zu machen, nach Hause zu gehen. Wir müssen dieses Wissen in Taten umsetzen, uns gegenseitig unterstützen und gemeinsam daran arbeiten, das Wohlgefallen Allahs zu verdienen. Denn der Tod kann jederzeit kommen – auf dem Weg zur Arbeit, im Schlaf, bei einem Unfall. Die Zeit ist kostbar, und wir wissen nicht, wie viel uns davon noch bleibt.

Zusammenfassung

Sich von großen Erwartungen zu trennen bedeutet nicht, das Leben zu hassen oder Resignation. Es bedeutet, die Vergänglichkeit des Diesseits zu erkennen und das ewige Leben danach nicht für vorübergehende Genüsse zu verspielen. Es bedeutet, jeden Moment bewusst zu nutzen, die uns geschenkten Gaben – Jugend, Gesundheit, Zeit, Leben – wertzuschätzen und für das einzusetzen, was wirklich zählt: Das Wohlgefallen Allahs und die Vorbereitung auf das ewige Leben.

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